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Büchner-Preisträger Wilhelm Genazino
Foto: Peter-Andreas Hassiepen

Gehätschelte Erfolglosigkeit

29. September 2016

Wilhelm Genazino liefert Beispiel für literarischen Humor in Deutschland – Textwelten 10/16

„So, wie es jetzt ist, kann es nicht bleiben.“ Aber wie gelingt es einem, der Mittelmäßigkeit zu entsteigen und ein bedeutsames Leben zu führen? In Wilhelm Genazinos neuem Roman „Außer uns spricht niemand über uns“ kann man erleben, wie Erfolglosigkeit gehätschelt und gepflegt wird. Sein Erzähler, ein zumeist beschäftigungsloser Schauspieler und Radiosprecher, streift jeglichen Ehrgeiz ab und entwickelt sich zum Skandal in einer Gesellschaft, die in jedem Moment nach Bedeutung und Berühmtheit giert. Wieder einmal beweist Genazino, der als Büchner-Preisträger schon die höchsten literarischen Weihen empfangen hat, dass Humor durchaus eine deutsche Tugend sein kann. Auch wenn die Literatur hierzulande keine schenkelklopfende Ausgelassenheit hervorbringt, so gibt es doch die subtile Komik, die erst auf den zweiten Blick ihre Wirkung vollends entfaltet.

Freilich erhält der sich und andere gnadenlos beobachtende Erzähler seine Quittung für fehlende Ambition. Seine Freundin Carola verlässt ihn für einen anderen und kommt doch immer wieder einmal zurück, um mit ihm zu schlafen. Ethik und Alltag gehen eben gewöhnlich unterschiedliche Wege. Mit einer fast sadistischen Lust richtet sich Genazinos Erzähler in Mittelmäßigkeit und leidenschaftslosem Beischlaf ein. Die Konsequenz, mit der jeder Anflug von Glamour und Eitelkeit verweigert wird, lässt tatsächlich so etwas wie das Porträt eines Anti-Helden unserer Tage entstehen. Hier will jemand keine Karriere und kein Geld, keine Ehe und keine Kinder, sondern nur noch im Hier und Jetzt vor sich hin dümpeln. Und dabei erweist er sich als genauer Beobachter unseres Alltagslebens. Der Blick auf die Bäckerei am Sonntag, die Menschen auf der Straße, im Café oder Kaufhaus bleibt neugierig und produziert unablässig kleine Überraschungen.

Auch die Story nimmt unvorhersehbare Wendungen. Denn wenn sich der Erzähler auch nicht von der Stelle rührt, so bleibt die Welt da draußen doch in Bewegung und letztlich erfährt sogar Genazinos Erzähler eine erotische Errettung. Vielleicht ist dieser neue Roman ein Grad boshafter als seine köstlichen Vorgänger „Das Glück in glücksfernen Zeiten“ oder „Bei Regen im Saal“. Das liegt wohl auch daran, dass Genazino seinen Figuren nicht mehr die Intimität gewährt, die einer Beziehung erst Bedeutung gibt. Wer immer beobachtet, entdeckt Tragisches wie Komisches in Fülle, aber Raum für die Unvollkommenheit der Anderen eröffnet er damit nicht. So wird der genaue Blick auch zur Waffe, die keine Nähe zulässt. Die Stärke dieser Prosa liegt eben auch in ihrer Illusionslosigkeit, die uns vor Augen hält, in welchem Irrenhaus wir leben. Und das ist so komisch, das Genazino mit seinen Büchern schon fast wieder zum Lebenshelfer taugt.

Wilhelm Genazino: Außer uns spricht niemand über uns | Carl Hanser Verlag | 156 S. | 18 €

Thomas Linden

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Ruhrpiranha, 14.10.2016

Kapitalistisches Irrenhaus

Das "Irrenhaus" heißt Kapitalismus, und "Illusionslosigkeit" wird in diesem Hause durch völlig verfehlte Anreize gefördert, sodass insbesondere die von Genazino genannten Berufsfelder (Schauspiel und Medien) zunehmender Prekarisierung unterworfen sind, wodurch in der Tat jegliche Ambition abgetötet werden kann. Wer dieses Phänomen ausschließlich dem Individuum in die Schuhe schieben will, blendet die politische Dimension fahrlässig aus und erweist dem Anliegen, individuelle Ambitionen zu fördern, einen Bärendienst. "Gehätschelte Erfolglosigkeit" ist somit sicherlich kein neuer Trend, sondern allenfalls ein Klischee.

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