Was wir in den letzten Monaten schon alles waren und was wir noch hätten sein können: Sydney, Peshawar, Borno, Sinai, Kopenhagen und alle Unterdrückten und Hungernden dieser Welt. Waren wir in der Masse aber nicht. Die meisten von uns waren Charlie. Selbst diejenigen, die Charlie mal ganz gerne zum Teufel gewünscht hätten, waren plötzlich Charlie. Es mag vielleicht pervers klingen, dass uns die zwölf Toten bei dem Anschlag auf Charlie Hebdo zu mehr Social-Media- und realen Aktivitäten bewegten als über 130 ermordete Schüler in Pakistan. Aber so funktioniert nun einmal Betroffenheit. Was näher an unserer Lebensrealität ist, geht uns auch näher.
Bei der Berlinale dagegen räumten auf Film gebannte Lebensrealitäten ab, die der unsrigen fern und fremd erscheinen. Der Blick ging über den großen Teich, verschmähte jedoch die Staaten und schwenkte lieber gen Süden. Jayro Bustamante arbeitete sich in die Kultur der Kakchiquel-Maya-Frauen, Patricio Guzmán sinnierte über die chilenische Geschichte und Pablo Larraín zerrte die schwärzesten Schäfchen unter den katholischen Gottesmännern auf die Schlachtbank. Im Mittelpunkt der Berlinale stand jedoch „Taxi“, der Film des iranischen Filmemachers Jafar Panahi, der mit Berufs- und Ausreiseverbot bestraft wurde und dennoch immer Wege findet, vom wirklichen Leben im Iran zu zeugen. Die Jury zeigte ihre Wertschätzung für den heiter-bis-ernsten Film, der auf abenteuerliche Weise auf die Berlinale gelangte, indem sie dem Statement für unbedingtes Kino und Dokumentation den Goldenen Bären verlieh. Erste Muffeleien ließen jedoch nicht lange auf sich warten. Kakchik... – bitte was? Chile juckt nur beim Fußball. Iran? – Jaja, wissen wir langsam. Wer keine Lust hatte auf „bildungsbürgerliches Stirnfaltenkino“, konnte sich zur Weltpremiere der lebensnahen 50 Facetten von Mr. Grey die Seele streicheln oder prügeln lassen.
Hakeleien zwischen Popcorn- und Kunstkino hin oder her, Kino soll natürlich unterhalten. Erzwungene Betroffenheit ist schließlich so sinnvoll wie ein Share-Button gegen den Welthunger. Doch der Blick in fremde oder entfremdete Lebenswelten erzwingt nichts. Nach ca. 90 bis 160 Minuten geht das Licht im Kinosaal an und es bleibt allein uns überlassen, was wir aus dem Gesehenen machen. Im März können wir hervorragend mit neuen Einblicken und unseren Interessen experimentieren. Im Rahmen der Jüdischen Kulturtage zeigen die Essener Filmkunsttheater vier Seiten einer Kultur, die so lange Teil der unsrigen ist, wie wir von einer eigenen Kultur sprechen können, trotz aller Vorurteile und schlimmster Verfolgung. Die vielen von uns dennoch entfremdet ist. Das sweetSixteen in Dortmund dagegen widmet sich in der Reihe „Architektur und Film“ dem Leben in China. Unter dem Motto „MegaCities China – Kampf um urbanen Lebensraum“ ergibt sich eine neue Sichtweise zu einem Thema, das in anderer Dimension auch uns betrifft. Wir müssen nicht alles sein, nicht Beijing, nicht Tel Aviv, nicht das palästinensische Tira. Wir können im März ganz einfach ins Kino gehen, Neues entdecken, Bekanntes erleben und werden den Besuch zu dem machen, was uns bewegt.
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