„Für viele ist Marxloh der Weltuntergang“ stellt Halil Özet fest. Klein-Istanbul, Parallelgesellschaft, Ghetto, viele Namen hat der Stadtteil im Duisburger Norden, mit seinen 17.000 Einwohnern, davon zwei Drittel Migranten, schon bekommen. „Angstraum“ nannte ihn der Duisburger Polizeichef Rolf Cebin vor zwei Jahren, als die größte Moschee Deutschlands hier eröffnet und die friedliche Koexistenz der Religionen als „Wunder von Marxloh“ gepriesen wurde. Özet und sein Kollege Mustafa Tazeoglu halten nichts von solchen Begriffen: „Es ist schon genug gelogen worden“, bilanziert Tazeoglu sachlich, „es wird Zeit, etwas anders zu machen.“ Und beide haben eine Menge Ideen, wie das gehen kann. Zunächst einmal aber zeigte Özet, der als Kameramann in aller Welt Erfahrungen gesammelt hat, in einem leerstehenden Laden Fotos und Filme von Marxloh: „Innerhalb von drei Wochen kamen 1.000 Besucher. Danach gab es Jugendliche, die plötzlich stolz waren auf Marxloh, weil sie es im Film gesehen hatten“, erzählt Özet. Genau dies ist für beide ein Anfang: „Identifikation ist der Urzustand der Integration“, weiß der studierte Volkswirtschaftler Tazeoglu. „Marxloh ist der kleinste gemeinsame Nenner. Ich bin kein Türke, kein Deutscher, aber ich habe in Marxloh meine Wurzeln, meine Heimat und meine Familie“, erläutert Özet.
„WIR HABEN KEIN CAFÉ, EHER EINE ART SEMIPROFESSIONELLES WOHNZIMMER“
In dem Bunker mitten in Marxloh, in dem Özet sich mit seiner Filmfirma niedergelassen hat, boten die beiden kurzerhand auch einen Ort an, an dem alle willkommen sind, die Neues ausprobieren wollen, Ideen haben und Engagement für Marxloh zeigen. „Wir haben kein Café, eher eine Art semiprofessionelles Wohnzimmer“ sagt Tazeoglu. Mittlerweile treffen sich rund 35 Engagierte im Medienbunker, hocken zusammen, hecken Aktionen aus: etwa eine Beteiligung am Stillleben A40, bei der einhundert Frauen in Brautkleidern den Stellenwert in den Blick rückten, den Marxloh wegen seiner 46 Geschäfte für Brautmoden europaweit genießt. Oder die Aktion „Made in Marxloh“, bei der die Bunkerbetreiber vor laufenden Kameras bei der Eröffnung der Moschee Schilder hoch hielten und den Stadtteil zur Qualitätsmarke erklärten. Vorträge über innovative Stadtplanung, Theaterstücke, Konzerte und Ausstellungen, Expeditionen durch den Stadtteil oder ein Festival der Kulturen gehören längst zum dichten Programm, mit dem im Medienbunker die Zukunft des Stadtteils beginnt: „Es entsteht etwas völlig Neues, wenn zwei Kulturen sich begegnen. Da macht eins und eins eben drei“, erklärt Tazeoglu. „Die neue Drei“ nennt er deshalb die Leute, deren kleinster gemeinsamer Nenner Marxloh ist und die sich im Medienbunker, als neuem „Hotspot der Transnationalität“ zusammenfinden: „Dabei erfinden wir gar nichts neu, sondern übertragen Dinge auf Marxloh, die wir anderswo kennengelernt haben“, sagt Özet. Zum Beispiel bei den New Yorker Taxifahrern: „Es gibt wohl in ganz New York kaum einen Fahrer, der in den USA geboren ist, dennoch sind alle New Yorker. Die Herkunft ist sekundär.“
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