Kinokalender
Mo Di Mi Do Fr Sa So
16 17 18 19 20 21 22
23 24 25 26 27 28 29

12.605 Beiträge zu
3.828 Filmen im Forum

Foto (Ausschnitt): Maurice Haas / © Diogenes Verlag

Mit KI aus der Zwangslage

30. Dezember 2024

„Täuschend echt“ von Charles Lewinsky – Literatur 01/25

Fristlose Kündigung, das Konto leer, die Freundin abgehauen: Der Protagonist ist ein arbeitsloser Werbetexter in einer Zwangslage. Wie er sich daraus befreien kann, geht ihm eher zufällig auf: mithilfe künstlicher Intelligenz.

Wo üblicherweise Widmungen stehen oder Inspirierendes zitiert wird, ist dem Roman ein Zitat von Chat GPT vorangestellt. Denn die KI wird vom „bedrohlichen Zauberwort“ der eigenen Überflüssigkeit zur Komplizin: Mit immer wieder verfeinerten Anweisungen lässt der Werbetexter sie Absatz um Absatz eine Geschichte schreiben, die er als Buch verkaufen will. Lewinsky hat das selbst ausprobiert und diese Absätze eingeflochten. „Die KI hat sie geschrieben, aber ich habe sie erfunden“, redet sich der Protagonist ein.

Mit Witz und Esprit beschreibt Lewinsky zunächst das Arbeitsethos des Werbetexters, der Müsli anpreist, obwohl er es nicht ausstehen kann. Das ist ab der ersten Seite äußerst unterhaltsam, auch wenn die zerbrochene Beziehung des Protagonisten behandelt wird. Mit Anspielungen auf vom Journalisten Claas Relotius erfundene Reportagen gegenüber KI-generierten „Tatsachen“, verhandelt Lewinsky, was Autorschaft eigentlich noch bedeutet. Er stellt Mensch und Maschine auch stilistisch gegenüber: Manche Sätze enden im Nichts – solche lesbaren Gedankensprünge finden sich nicht in den KI-Absätzen.

Der Spannungsbogen zeichnet den Weg vom spielerischen Ausprobieren bis zur Abhängigkeit nach. Der zynische Protagonist befreit sich aus der Unterwürfigkeit, die seine privaten und beruflichen Beziehungen kennzeichneten, und erlangt als Autor Macht über seine Erzählung. Doch nur bedingt aus eigener Kraft: „Die künstliche Intelligenz hätte es ebenso gut gemacht. / Besser.“, reflektiert er sein Schaffen. Und: „Meine eigene Intelligenz lügt fast so gut wie die künstliche.“ Bald befindet er sich im permanenten Dialog mit der KI. Alles läuft gut, bis das als wahre Geschichte vermarktete Buch zum Bestseller wird. Wie jetzt mit immer drängenderen Fragen nach den vermeintlichen Tatsachen umgehen? Er trickst die der KI einprogrammierte Ethik aus und fragt das Programm um Rat. Das liest sich immer noch sehr unterhaltsam, doch zunehmend schwingen ernstere Töne mit.

Charles Lewinsky: Täuschend echt | Deutsche Originalausgabe | Diogenes | 352 S. | 26 Euro

Melanie Schippling

Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.

Neue Kinofilme

Drachenzähmen leicht gemacht

Lesen Sie dazu auch:

Ein Leben, das um Bücher kreist
„Roberto und Ich“ von Anna Katharina Fröhlich – Textwelten 06/25

Sicherheit unmöglich?
Die Lesung „Sicher nicht“ in Moers

Hartmut und Franz
Oliver Uschmann und sein Roman über das Verschwinden von Kafka – Literaturporträt 06/25

Die Spielarten der Lüge
„Die ganze Wahrheit über das Lügen“ von Johannes Vogt & Felicitas Horstschäfer – Vorlesung 05/25

Im Fleischwolf des Kapitalismus
„Tiny House“ von Mario Wurmitzer – Literatur 05/25

Starkregen im Dorf der Tiere
„Der Tag, an dem der Sturm alles wegfegte“ von Sophie Moronval – Vorlesung 05/25

„Charaktere mit echten Biografien“
Oliver Uschmann über seinen Roman „Ausgefranzt“ – Literatur 05/25

Das Vermächtnis bewahren
Eröffnung des Bochumer Fritz Bauer Forums – Bühne 05/25

Ein Meister des Taktgefühls
Martin Mosebachs Roman „Die Richtige“ – Textwelten 05/25

Unglückliche Ehen
„Coast Road“ von Alan Murrin – Literatur 04/25

Die Kunst der zärtlichen Geste
„Edith“ von Catharina Valckx – Vorlesung 04/25

Über Weltschmerz sprechen
„Alles, was wir tragen können“ von Helen Docherty – Vorlesung 04/25

Literatur.

HINWEIS