Dogmatische Kommunist:innen konnten darin sicherlich Ketzerei wittern, als der jüdische Philosoph und Literaturkritiker Walter Benjamin seine Thesen über den Begriff der Geschichte formulierte. Selbst verfolgt vom faschistischen Vormarsch in Europa und zutiefst enttäuscht vom damaligen Hitler-Stalin-Pakt interpretierte er Paul Klees Bild „Angelus Novus“ als Allegorie, als „Engel der Geschichte“. Schließlich wende sich Klees Flatterwesen der Vergangenheit zu, „da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft (…)“ Bis sich ein Sturm in seine Flügel verfängt und ihn in die Zukunft bläst. „Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm“, resümiert Benjamin. Und formuliert damit eine Absage an eine aufklärerische oder marxistische Vorstellung von Geschichte, welche die Menschen in eine bessere Zukunft führe.
Doch Benjamin ist nicht der einzige Denker, der im 20. Jahrhundert ketzerische Erkenntnisse verbreitete. Der Schriftsteller und Publizist Marko Martin porträtiert daher in seinem 2023 erschienenen Buch und im gleichnamigen Vortrag mit dem Titel „Brauchen wir Ketzer? – Stimmen gegen die Macht“ eine ganzen Riege von Philosoph:innen und Schriftsteller:innen, die dissidentische Gedanken in verknöcherte, ideologische Diskurse und Ansichten einbrachten. Dazu gehören so illustre Figuren wie z.B. die Essayisten Hermann Broch und Ludwig Marcuse, die zu ihrer Zeit faschistische, aber zugleich auch stalinistische Manipulations- sowie Herrschaftsstrukturen durchschauten. „Der Intellektuelle ist (...) sozusagen der ‚Ketzer an sich‘“, schrieb etwa Marcuse.
Unter diesen Häretiker:innen – nie zu verwechseln mit selbsterklärten „Querdenkern“, die von der Realität und Faktizität abweichen – wähnt Martin ebenso die Schriftstellerin Anna Seghers, deren Werke in der DDR eigentlich als konform galten. Doch lassen sich ihre karibischen Novellen als eine Blaupause zu den späteren postkolonialen Diskussionen lesen? Das ist eine von vielen Fragen, die Martin in seinen Re-Lektüren und Porträts nachgeht. Der 1970 in Sachsen geborene Publizist weist selbst eine dissidentische Vita auf. In der DDR war er Kriegsdienstverweigerer, erhielt aus politischen Gründen ein Hochschulverbot und siedelte 1989 in den Westen über.
Brauchen wir Ketzer? | Mi 27.9. 19 Uhr | Stadtarchiv Dortmund | www.dortmund.de
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