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Gleichzeitigkeit ist relativ: Tim Szlafmycas Buchdebüt im Freibeuter Bochum
Foto: Ulrich Schröder

Mentaler Endzeitkollaps

11. Oktober 2016

Philosophisch inspirierte Buchdebüts von Tim Szlafmyca, Caroline Königs und Jaana Redflower – Literatur 10/16

Per Rotakil ist besessen. Von einem Pinguin. Im Kopf. Es beginnt mit einer ersten Episode im Einkaufszentrum, als das Tier erstmals die Kontrolle über den Protagonisten übernimmt und ihn dazu bringt, die Schaufenster-Deko eines Spielzeugwarenladens zu beschießen – wenn auch nur mit einer maschinengewehrartigen Wasserpistole. Doch es soll noch viel schlimmer kommen… Der animalische Terror aus der Gehirnmitte bringt Per zwischenzeitlich in die Psychiatrie, bevor die vermeintlich antarktische Höllenkreatur zunehmend Besitz von Pers Denken und Handeln ergreift. Eine geballte Ladung Fiction mit einem Touch Horror prägt Jaana Redflowers Erstling „Jorge, Pinguin im Kopf“ (Paashaas 2016). Doch was ihren phantastischen Thriller aktuell besonders spannend macht, sind Assoziationen, die sich unwillkürlich auf Gefahren einer immer stärker in den menschlichen Bereich intervenierenden künstlichen Intelligenz richten: Wann übernimmt die Technik die Kontrolle über den Menschen?

Rote Blume im Haar und Pinguin im Kopf: Jaana Redflower

Am 10.10. gab die Wittener Multikünstlerin im Gladbecker Café Stilbruch nicht nur einen Einblick in ihr Debüt-Buch, sondern stellte zusammen mit ihrem musikalischen Partner Adrian Klawitter auch ihre neue CD „Of Rhythm and Blues“ vor. Ihre nicht selten tiefgründig-melancholischen Songs sind zuweilen ebenfalls inspiriert vom zivilisatorischen Kontrollverlust – etwa wenn sich Jaana in „Akira’s Song“ mit dem Atombomben-Abwurf auf Hiroshima auseinandersetzt. Diese Themenwahl sei, so Jaana im anschließenden Gespräch, keineswegs zufällig – so nennt sie als erste Radionachricht, an die sie sich erinnern kann, die Reaktor-Havarie von Tschernobyl.

Vielleicht steht er ja unbewusst genau für einen solchen (mentalen) Super-GAU, der Pinguin, der aus der Hölle kam, um auf der Erde ein Blutbad anzustiften, indem er sich in ein menschliches Gehirn teleportiert. Per Rotakil wird somit zum Replikator seines durch mentale Fremdbestimmung induzierten destruktiven Handelns, was ihn schließlich zum Serienkiller macht...

Räsonverlust und Flucht in die Fiktion

Apokalyptisch geht es auch in Caroline Königs 2015 im Ruhrliteratur-Verlag publizierten Erstling „Die verlorene Räson“ zu. Bei ihrer Buchpräsentation im Freibeuter Bochum am 5.10. gab die bei der Gruppe „Treibgut – Literatur von der Ruhr“ aktive Autorin einen tiefen Einblick in ihr vielversprechendes Werk. In der Phantasiewelt ihrer Protagonistin werden Freunde und auch die eigenen Eltern zu Akteuren in einem mentalen Schachspiel mit lebendigen Figuren, die wie Marionetten an Mareikes Gedankenfäden hängen. Doch auch Mareike ist nicht frei von geistiger Beeinflussung von außen, und es bleibt die Frage offen, was eigentlich „die oberste, die wahre Welt in ihrem Gehirn“ sei. Und insbesondere wenn sie schläft, ist ihr Gedankenschachspiel den ungezügelten Kräften des Unbewussten ausgesetzt: „Wenn sich ihr Kopf ihrer Kontrolle entzieht, übernimmt ihr Unterbewusstsein die Macht. […] Ihr Schlaf ist verheerend, er ist die Kraft des Bösen.“

Caroline Königs literarischer Kosmos ist geprägt von einer Welt des Paradoxen, die einiges mit den apokalyptischen Anklängen bei Jaana Redflower gemeinsam hat. In den Romanen beider Autorinnen dreht sich der Plot um mentale Fremdbestimmung und Entfremdung von einer vermeintlichen Realität, die immer schwerer von einer in diese intervenierenden Fiktion trennbar erscheint. Dies gilt zweifellos auch für die gegenwärtige außerliterarische Wirklichkeit, die zunehmend vom digital und medial konstruierten Cyberspace durchdrungen ist, der immer mehr von uns Besitz zu ergreifen und sich in unseren Köpfen zu verselbständigen droht.

Relativität der Gleichzeitigkeit

Bei der Gruppe Treibgut ist auch der Leipziger Autor Tim Szlafmyca seit 2010 aktiv, der den über 50 Freibeuter-Gästen am selben Abend eine lakonisch-entspannte Sicht auf universelle Fragen nahebrachte: „Wir waren die Kaputten in der kaputten Welt, also möglicherweise die ultimative Perfektion“, heißt es schon im Klappentext seines aktuell erschienenen phantastischen Slacker-Romans „Die Relativität der Gleichzeitigkeit“ (BoD Norderstedt 2016). Auf eine humorvoll-emphatisch geschilderte existenzphilosophische Reise durch den topographisch vage an Bochum erinnernden urbanen Raum begibt sich der Ich-Erzähler auf die Suche nach der großen Liebe, an die er trotz aller universaler Paradoxien unerschütterlich glaubt. Das Küchenfenster, an dem er nicht selten rauchend zu stehen pflegt, dient ihm dabei als „Weltraumteleskop“, um die Frage der (Un-)Möglichkeit von Leben auf Planeten außerhalb der „habitablen Zone“ zu erkunden. Diese will er Dirk, „dem Rührei von letzter Woche“, keinesfalls streitig machen, sodass er regelmäßig den Abwasch prokrastiniert. Schon der „Kosmos Küche“ hält also einige Fallstricke für den Dauersingle bereit, der sich in seine Phantasiewelt und die einseitige absurde Konversationen mit Dirk flüchtet.     

Ein weiterer zentraler Schauplatz des Romans ist eine rumpelnde Straßenbahn, wo der Großstadt-Held sein zweites Zuhause hat und schließlich den potenziellen Schlüssel zur Wendung seines Lebens findet, indem er „das Straßenbahnmädchen“ kennenlernt. Ohne sich vorher zu vergewissern, ob es sich bei ihr vielleicht um eine „Veganerin, Vegetarierin, Unitarierin, Marsianerin“ oder Angehörige einer anderen latent gruseligen Spezies handle, lädt er sie in seinen Küchenkosmos ein und bringt es sogar übers Herz, Dirk dafür zu töten… Mit leichtem Federstrich skizziert Tim Szlafmyca existenzphilosophische Diskurse, welche in die eine, ewig gleiche Antwort auszumünden scheinen: Nur wenn man den Glauben an die große Liebe (noch) nicht verloren hat, macht Unsinn Sinn.   

Ulrich Schröder

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