Kinokalender
Mo Di Mi Do Fr Sa So
22 23 24 25 26 27 28
29 30 1 2 3 4 5

12.558 Beiträge zu
3.787 Filmen im Forum

Gespräch über Ausbeutung, v.l.n.r.: Moderator Christian Rabhansl, Maximiliane Schaffrath, Nicole Mayer-Ahuja und Oliver Nachtwey
Foto: Benjamin Trilling

Deutschlands wahrer Wirtschaftsmotor

29. Oktober 2021

„Lesart“ in Essen zur Frage: „Wer die Republik wirklich am Laufen hält“ – Literatur 11/21

Das Bild drängt sich nicht gerade auf, um einen Erkenntniseffekt durch die Coronakrise zu beschreiben. Doch Oliver Nachtwey nimmt das Beispiel eines pulsierenden Nachtclubs, in der die Gäste zwischen den dimmenden Lichtkegeln der Discoorgeln tanzen, um die vorpandemische Ära zu illustrieren. Bis wer aus Versehen das Hauptlicht einschaltet. Und dadurch sichtbar wird, wer hinter den Kulissen eigentlich alles das Nightlife stemmt: Kellner, Kassierer oder Reinigungspersonal.

Der Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaftler will damit natürlich auf die Arbeitskräfte hinweisen, denen üblicherweise kaum Anerkennung zuteil wird, jedoch während des Lockdowns als diejenigen applaudiert wurden, die, – wie so oft beschworen – , „den Laden am Laufen halten“. Sie spielen die Hauptrolle in dem Buch, das Nachtwey gemeinsam mit der Soziologin Nicole Mayer-Ahuja herausgab; der Titel: „Verkannte Leistungsträger:innen. Berichte aus der Klassengesellschaft.“

„Konzernkliniken” statt Patientenwohl

Mayer-Ahuja und Nachtwey referierten in der Sachbuch-Reihe „Lesart“ zum Thema „Ausgebeutet – Wer die Republik wirklich am Laufen hält“ über die Thesen und Erkenntnisse ihres fast 600 Seiten dicken Bandes, der im Suhrkamp-Verlag erschienen ist. Moderator Christian Rabhansl von Deutschlandfunk Kultur (neben der Buchhandlung Proust, der WAZ und dem Schauspiel Essen Veranstalter der Reihe) richtete seine Fragen auch an die Autorin Maximiliane Schaffrath, die im Café Central des Grillo-Theaters ebenso über ihr Buch „Systemrelevant – Hinter den Kulissen der Pflege" plauderte.

Maximiliane Schaffrath begann nach ihrem Schulabschluss eine Ausbildung zur Krankenpflegerin. Im Klinikalltag stopft sie schnell die Personallücken, die sich in den Stationen auftaten: Von der Onkologie ging es in die Palliativmedizin, schließlich in die Notfallaufnahme. Überall herrschte der gleiche Krankenhausalltag, über den sie in ihrem Reportage-Band einen persönlichen, wie wütenden Einblick gewährt. Für den Menschen bleibe in diesen Konzernkliniken keine Zeit, so Schaffrath: „Das ist ein Riesengetriebe und die Leidtragenden sind die Patienten.“

Buckelndes Prekariat

Ihre subjektive Perspektive konnten die beiden anwesenden Soziologen nur bestätigen – gerade die Ökonomisierung der Daseinsfürsorge durch das Fallpauschalensystem: „Das ist kein Sachzwang, das ist politisch gemacht“, bemerkte Mayer-Ahuja, die zugleich eine Warnung formulierte, die sich wie eine Adressierung an Olaf Scholz' Wahlkampfschlager las: „Bessere Löhne reichen nicht, wenn die Arbeitsbedingungen so bleiben.“ Die SPD schuf einen Niedriglohmarkt, in dem laut Mayer-Ahuja vor allem zwei gesellschaftliche Gruppen prekär buckeln: Frauen und Migrant:innen. Das reicht von den Pflegekräften, über Paketbot:innen, bis zu Leiharbeiter:innen. Hinzukommen die plattformkapitalistischen Tagelöhner von Lieferando oder Gorillas.

Besonders fies: Wer sich dort abstrampelt, kann noch nicht mal wütend auf seinen Vorarbeiter sein. Apps und Algorithmen übernehmen das Kommando, während klassische Belegschaften gar nicht existieren: „Es sind extrem vereinzelte Arbeitsbedingungen, wo man nirgendswo eingebunden ist“, so Mayer-Ahuja. Oliver Nachtwey spricht an diesem Abend sogar von einem „digitalen Leviathan“, welcher etwa in Amazon-Lagerhallen nicht nur die Schuftenden überwacht, sondern ihre Bewegungen messe. Vom Himmel sei diese Entrechtung nicht gefallen, wie Nachtwey festhält: „Warum das so passiert, liegt an der systematischen Schwächung der Gewerkschaften.“ Alles gefallen lassen sich die Beschäftigten trotzdem nicht, wie der jüngst erfolgreiche Streik der Charité-Pflegekräfte beweist. Nachtwey: „Die Beschäftigten spüren vielleicht auch die neue gesellschaftliche Macht, die sie durch Corona haben.“ Das Licht in der Disco bleibt also an.

Benjamin Trilling

Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.

Neue Kinofilme

Challengers – Rivalen

Lesen Sie dazu auch:

Kindheit zwischen Buchseiten
„Die kleinen Bücher der kleinen Brontës“ von Sara O’Leary und Briony May Smith – Vorlesung 05/24

Grenzen überwinden
„Frieda, Nikki und die Grenzkuh“ von Uticha Marmon – Vorlesung 04/24

Für Kinder und Junggebliebene
Gratis Kids Comic Tag 2024

„Ruhrgebietsstory, die nicht von Zechen handelt“
Lisa Roy über ihren Debütroman und das soziale Gefälle in der Region – Über Tage 04/24

„Ich komme mir vor wie Kassandra“
Jaana Redflower über ihren Roman „Katharina?“ und das neue Album der Gamma Rats – Interview 04/24

Erwachsen werden
„Paare: Eine Liebesgeschichte“ von Maggie Millner – Textwelten 04/24

Von Minenfeldern in die Ruhrwiesen
Anja Liedtke wendet sich dem Nature Writing zu – Literaturporträt 04/24

Wortspielspaß und Sprachsensibilität
Rebecca Guggers und Simon Röthlisbergers „Der Wortschatz“ – Vorlesung 03/24

Lebensfreunde wiederfinden
„Ich mach dich froh!“ von Corrinne Averiss und Isabelle Follath – Vorlesung 03/24

Das alles ist uns ganz nah
„Spur und Abweg“ von Kurt Tallert – Textwelten 03/24

Wut ist gut
„Warum ich Feministin bin“ von Chimamanda Ngozi Adichie – Vorlesung 03/24

Unschuldig bis zum Beweis der Schuld
„Der war’s“ von Juli Zeh und Elisa Hoven – Vorlesung 02/24

Literatur.

Hier erscheint die Aufforderung!