Das Bild drängt sich nicht gerade auf, um einen Erkenntniseffekt durch die Coronakrise zu beschreiben. Doch Oliver Nachtwey nimmt das Beispiel eines pulsierenden Nachtclubs, in der die Gäste zwischen den dimmenden Lichtkegeln der Discoorgeln tanzen, um die vorpandemische Ära zu illustrieren. Bis wer aus Versehen das Hauptlicht einschaltet. Und dadurch sichtbar wird, wer hinter den Kulissen eigentlich alles das Nightlife stemmt: Kellner, Kassierer oder Reinigungspersonal.
Der Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaftler will damit natürlich auf die Arbeitskräfte hinweisen, denen üblicherweise kaum Anerkennung zuteil wird, jedoch während des Lockdowns als diejenigen applaudiert wurden, die, – wie so oft beschworen – , „den Laden am Laufen halten“. Sie spielen die Hauptrolle in dem Buch, das Nachtwey gemeinsam mit der Soziologin Nicole Mayer-Ahuja herausgab; der Titel: „Verkannte Leistungsträger:innen. Berichte aus der Klassengesellschaft.“
„Konzernkliniken” statt Patientenwohl
Mayer-Ahuja und Nachtwey referierten in der Sachbuch-Reihe „Lesart“ zum Thema „Ausgebeutet – Wer die Republik wirklich am Laufen hält“ über die Thesen und Erkenntnisse ihres fast 600 Seiten dicken Bandes, der im Suhrkamp-Verlag erschienen ist. Moderator Christian Rabhansl von Deutschlandfunk Kultur (neben der Buchhandlung Proust, der WAZ und dem Schauspiel Essen Veranstalter der Reihe) richtete seine Fragen auch an die Autorin Maximiliane Schaffrath, die im Café Central des Grillo-Theaters ebenso über ihr Buch „Systemrelevant – Hinter den Kulissen der Pflege" plauderte.
Maximiliane Schaffrath begann nach ihrem Schulabschluss eine Ausbildung zur Krankenpflegerin. Im Klinikalltag stopft sie schnell die Personallücken, die sich in den Stationen auftaten: Von der Onkologie ging es in die Palliativmedizin, schließlich in die Notfallaufnahme. Überall herrschte der gleiche Krankenhausalltag, über den sie in ihrem Reportage-Band einen persönlichen, wie wütenden Einblick gewährt. Für den Menschen bleibe in diesen Konzernkliniken keine Zeit, so Schaffrath: „Das ist ein Riesengetriebe und die Leidtragenden sind die Patienten.“
Buckelndes Prekariat
Ihre subjektive Perspektive konnten die beiden anwesenden Soziologen nur bestätigen – gerade die Ökonomisierung der Daseinsfürsorge durch das Fallpauschalensystem: „Das ist kein Sachzwang, das ist politisch gemacht“, bemerkte Mayer-Ahuja, die zugleich eine Warnung formulierte, die sich wie eine Adressierung an Olaf Scholz' Wahlkampfschlager las: „Bessere Löhne reichen nicht, wenn die Arbeitsbedingungen so bleiben.“ Die SPD schuf einen Niedriglohmarkt, in dem laut Mayer-Ahuja vor allem zwei gesellschaftliche Gruppen prekär buckeln: Frauen und Migrant:innen. Das reicht von den Pflegekräften, über Paketbot:innen, bis zu Leiharbeiter:innen. Hinzukommen die plattformkapitalistischen Tagelöhner von Lieferando oder Gorillas.
Besonders fies: Wer sich dort abstrampelt, kann noch nicht mal wütend auf seinen Vorarbeiter sein. Apps und Algorithmen übernehmen das Kommando, während klassische Belegschaften gar nicht existieren: „Es sind extrem vereinzelte Arbeitsbedingungen, wo man nirgendswo eingebunden ist“, so Mayer-Ahuja. Oliver Nachtwey spricht an diesem Abend sogar von einem „digitalen Leviathan“, welcher etwa in Amazon-Lagerhallen nicht nur die Schuftenden überwacht, sondern ihre Bewegungen messe. Vom Himmel sei diese Entrechtung nicht gefallen, wie Nachtwey festhält: „Warum das so passiert, liegt an der systematischen Schwächung der Gewerkschaften.“ Alles gefallen lassen sich die Beschäftigten trotzdem nicht, wie der jüngst erfolgreiche Streik der Charité-Pflegekräfte beweist. Nachtwey: „Die Beschäftigten spüren vielleicht auch die neue gesellschaftliche Macht, die sie durch Corona haben.“ Das Licht in der Disco bleibt also an.
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