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Annika Büsing
Foto: Emilia Hesse/Steidl Verlag

Freischwimmen

24. Februar 2022

Debütautorin Annika Büsing geht in die Randbereiche der Städte – Literaturporträt 03/22

Wenn ein Roman den Titel „Nordstadt“ trägt, kann man sich sicher sein, dass hier keine Heile-Welt-Geschichte zu erwarten ist, und auch die literarisch schon recht ausgetretenen Berliner Kiezstraßen liegen fern. Die gebürtige Bochumerin Annika Büsing hat ihren Debütroman erkennbar im Ruhrgebiet angesiedelt. Welche Stadt sie beim Schreiben im Hinterkopf hatte, lässt sie jedoch offen: „Im Buch wird bewusst kein Städtename genannt. Ich wollte die Geschichte universell halten, denn tatsächlich gibt es die Problematik einer Teilung von Städten in wohlhabende Stadtteile und deutlich ärmere praktisch überall. Dieses Nord-Süd-Gefälle ist etwas, das wir im Ruhrgebiet ganz gut aus Städten wie Dortmund und Essen kennen, in Bochum kommt es nur in etwa hin. Ich denke, die Verwurzelung im Ruhrgebiet zeigt sich am meisten in der Sprache der Figuren. Ich erinnere mich daran, dass mein Lektor die Wendung ‚Da packe ich mich nicht für‘ nicht kannte, und ich gesagt habe: ‚Ja, weil du nicht aus dem Ruhrgebiet kommst.‘ Unterm Strich ist es nicht wichtig, wo die Figuren leben, sondern mit welchen Problemen sie kämpfen.“

Schwierige Vergangenheit

Und Probleme haben Büsings Romanfiguren reichlich: Im Mittelpunkt stehen Ich-Erzählerin Nene und der gehbehinderte Boris. Beide sind Mitte 20, als sie sich im Schwimmbad kennenlernen. Hier ist Nenes Arbeitsplatz. Sie hat sich durchgekämpft nach einer Kindheit mit prügelndem Vater, einer Jugend zwischen Wohngruppe und bedrohlichem Zuhause. Das Schwimmen und der Vereinssport haben ihr Halt gegeben, sie ist nun Schwimmeisterin und Boris steht eines Tages vor ihr, um sich ein Schwimmbrett auszuleihen. Es entwickelt sich ein sehr kompliziertes Wechselspiel aus Anziehung und Abweisung zwischen den 25-Jährigen. Beide haben eine schwierige Vergangenheit, die ihre Gegenwart überstrahlt.

Die ersten Monate der Beziehung zwischen Nene und Boris lassen sich anhand teils denkwürdiger Kinobesuche gliedern und auch zeitlich recht klar in die Spanne von Januar bis Mai 2015 einordnen, beginnend mit Action-Rachestreifen à la „John Wick“ bis hin zu „Aloha – Die Chance auf Glück“. „Die Filme haben in ihrer Abfolge eine gewisse Entwicklung“, erläutert die Autorin: „In ‚John Wick‘ geraten die beiden ja zufällig, weil Nene an der Kasse einfach ein Kino nennt, damit es keinen Ärger gibt, und erst hinterher sieht, welcher Film dort läuft. Aber ganz klar hat das Rachethema eine zentrale Bedeutung. ‚Aloha‘ ist ein Film, der im krassen Gegensatz zu Nenes und Boris’ Lebensrealität steht. Es gibt für sie keine Lösung, die am Ende alles klärt.“

Impfskepsis bei Kinderkrankheiten

Dass der 2020 geschriebene Roman im Jahr 2015 spielt, liegt übrigens an Corona: „Ich wollte ihn bewusst etwas von der Pandemie absetzen“, erklärt Büsing. Doch obwohl sie das Thema Pandemie eigentlich ausklammern will, lesen sich einzelne Passagen wie Kommentare zur aktuellen Situation: Boris hat seine Behinderung fraglos der Mutter zu verdanken, die als erklärte Impfgegnerin die Gefahr von Polio nicht sehen wollte. Aber Büsing stellt klar: „Dass das Thema Impfen einmal ein so heißes Eisen werden würde, ließ sich 2020 noch nicht absehen. Da ging es gerade erst einmal darum, einen Impfstoff zu entwickeln und für alle verfügbar zu machen. Das Thema Kinderlähmung hat mich stark beschäftigt – eine Krankheit, die durch Impfung praktisch ausgerottet werden konnte. Und wenn man eben doch daran erkrankt ist, wie in Europa ein paar wenige Menschen in den 90ern, dann bekommen sie oft zu hören: ‚Aber das gibt es doch gar nicht mehr!‘ Für Boris ist das die absolute Abwertung. Das Gleiche passiert, wenn er hungert, weil er am Monatsende kein Geld mehr auf dem Konto hat. Auch da heißt es: ‚Aber in Deutschland bekommt man doch Sozialhilfe!‘ Es ist, als sei er unsichtbar.“

Trigger und Trauma

Dem Buch vorangestellt ist eine Inhaltswarnung vor Beschreibungen körperlicher, psychischer und sexualisierter Gewalt. Das verwundert ein wenig, denn häufig sind in einer Tageszeitung detailliertere Schilderungen von Gewalt zu finden. Selbst von einer Vergewaltigung in ihrer Jugend erzählt Nene eher nebenbei. Dennoch verteidigt die Autorin die warnenden Sätze vehement: „Bei Inhalts- oder Triggerwarnungen geht es nicht darum, wie explizit Gewalt dargestellt wird, sondern darum, schlicht darauf hinzuweisen, dass es in dem Buch Stellen gibt, die solche Erfahrungen schildern. Es gibt Fälle, in denen allein die Erwähnung bestimmter Worte retraumatisierend wirkt. Eine Inhaltswarnung gibt Menschen, die von Gewalt und Missbrauch betroffen sind oder waren, die Wahl, ob sie das Buch lesen wollen oder nicht. Wer sich nicht betroffen fühlt, kann über die Warnung hinweglesen. Die Verantwortung dafür tragen der Verlag und ich gemeinsam.“ Trotz der eher beiläufigen Schilderung ihrer traumatischen Erlebnisse sei Nene keineswegs abgestumpft: „Wenn sie von der Vergewaltigung ‚nebenbei‘ erzählt, dann eher, weil sie sich entschieden hat, diesen Erinnerungen keine allzu große Macht über sie zu geben. Trotzdem erleidet sie eine Panikattacke, als sie in einer Toilettenkabine eingesperrt ist. Trotzdem beschäftigt sie andauernd der Gedanke, dass der Mann, der sie vergewaltigt hat, ganz profane Dinge tun kann, vielleicht ohne jemals darüber nachzudenken, was passiert ist.“ Nene musste sich viele Dinge erkämpfen, die für andere selbstverständlich seien, eben weil ihr Gewalt angetan wurde. „Das ist es, was Gewalt macht: Sie raubt Chancen, Perspektiven, Lebensglück.“

Der Roman erzählt nicht chronologisch, immer wieder schlägt die Geschichte Haken, Nene springt in den Zeiten, um sich letztlich im Kreis zu drehen und dem Leser die Einschätzung zu überlassen, ob ihre Beziehung wohl den Winter überdauern wird. Der Tod spielt eine zentrale Rolle, aber auch Vergeben und Vergessen. Mit dem Vater hat Nene gebrochen, ihn im Heim zu besuchen, kommt für sie nicht in Frage. Zwei Todesfälle im Umfeld der Badegäste werden zu einer Art Ventil für alles, was sie in sich hineingefressen hat – eine Lesart, die die Autorin bestätigt. „Allerdings ist es eben auch nicht so einfach, die Dinge zu überwinden, die ihr widerfahren sind“, ergänzt sie und fährt fort: „Ich glaube, es ist eine Mär, dass man irgendwann einfach drüber weg ist. Man kann sicher ein Stück weit seinen Frieden machen, aber Gewalterfahrungen bleiben immer Teil der Erinnerung. Insofern ist der Tod ihres Vaters für Nene ein Neuanfang, aber es ist eben auch nicht alles gut. Noch ein Grund mehr, warum das Ende des Romans so offen ist.“

Nene hat in ihrem Leben Hilfe erhalten. Vielleicht nicht genug, um mit einem klaren Schnitt dem Martyrium zuhause frühzeitig zu entkommen – aber Schwimmtrainer und Lehrer haben nicht nur gesehen, dass etwas mit dem Kind nicht stimmte, sondern sind auch eingeschritten. Annika Büsingist selbst Lehrerin an einem Bochumer Gymnasium. Ob sie selbst das richtige Gespür für ihre Schüler hätte? „Ich bin aufmerksam, höre zu, sehe hin. Das ist mein Job und ich finde, wir müssen unseren Job machen. Ich kann nicht sagen: Oh, jetzt ist aber Freitagmittag, jetzt passt es gerade schlecht. Aber es liegt nicht allein an mir. Ich kann nur etwas tun, wenn Schülerinnen und Schüler sich mir anvertrauen. Das kann ich vermitteln: Offenheit und Gesprächsbereitschaft.“

Die Kurve kriegen

Wenn eine Deutschlehrerin einen Roman schreibt, in dem es um Gewalt in der Familie und Missbrauch geht, begibt sie sich ja gerade in unserer heutigen vernetzten Zeit auf sehr dünnes Eis. Nene und Boris sind dem Alter von Büsings Schülern entwachsen. Die Autorin – die am 23. April beimLiteraturviertelfest 2022 zu Gast in Essen sein wird –betont allerdings, dass dies einen anderen Grund hat, als etwa einer Glaubwürdigkeitsprüfung der verwendeten Jugendsprache durch ihre eigenen Schüler zu entgehen: „Die Protagonisten haben dieses Alter, weil es für die Geschichte wichtig ist, dass sie inzwischen selbst für ihr Leben verantwortlich sind. Sie sind längst aus dem Schatten ihrer Eltern herausgetreten, auch wenn deren Handeln und Entscheidungen maßgeblich Einfluss auf sie gehabt haben. Das ist etwas, das alle Mittzwanziger so erleben. Nene gestaltet ihr Leben sehr bewusst, Boris hat, was das betrifft, noch nicht ganz die Kurve gekriegt.“

Und wie könnten ihre Schüler auf das Buch reagieren? „Ich denke, ehrlich gesagt, nicht groß darüber nach, ob an mich als Lehrerin andere Ansprüche gestellt werden könnten als an andere Autorinnen. Ich bin mir auch gar nicht sicher, wie viele meiner Schülerinnen und Schüler mein Buch tatsächlich lesen werden. Aber wenn sie es tun, dann werden sie so oder so ihre ganz eigene Lesart haben. Schön wäre, wenn es ihnen Mut macht, ihr Leben in die Hand zu nehmen. Das wäre in Gold nicht aufzuwiegen.“

Annika Büsing: Nordstadt | Steidl Verlag | 128 S. | 20 €

Frank Schorneck

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