Nicole Flatterys Debütroman „Nichts Besonderes“ klingt verheißungsvoll und weckt Neugierde: Er steigt ein in die Kunstszene New Yorks der 60er und wirbt mit niemand Geringerem als Andy Warhol. Doch Flattery unterläuft die Erwartung, die man nach dem Klappentext hegt. Anstatt einen Künstlerroman über Pop Art liefert sie eine Coming-of-Age-Geschichte über eine starke Hauptfigur.
Andy Warhol mag hier zwar die große Ikone sein, taucht aber – so viel sei verraten – lediglich am Rande auf. Die Handlung kreist vorrangig um Mae, die 2010 in höherem Alter nach dem kürzlichen Verscheiden ihrer Mutter die seltsam verschlungenen Pfade ihres Lebens reflektiert. Jetzt, wo sie als gealterte Frau in einem „stinknormalen“ Alltag festsitzt.
Sie kehrt gedanklich zurück ins Jahr 1966, zu ihrem siebzehnjährigen Ich. Da ist sie noch unangepasst, rebellisch und lebenshungrig. Wenn sie die Schule nicht gerade schwänzt, erregt sie dort Anstoß. Mit ihrer alkoholkranken Mutter, die als Barkeeperin arbeitet und sich von Affäre zu Affäre hangelt, streitet sie im Grunde nur. Der Ausbruch aus der Enge des tristen Großstadtrands New Yorks – einer „Stadt, die scharf ist wie eine Rasierklinge“ – scheint letztendlich unausweichlich. So führt das Schicksal sie in die Welt der Kunstschaffenden. Genauer gesagt: in deren wild pulsierendes Herz. In Andy Warhols berüchtigter Factory wird sie als Stenotypistin angeheuert und transkribiert auf der Schreibmaschine Tonbandaufzeichnungen, die später Warhols Kauderwelsch-Buch „a: Ein Roman“ werden sollen. Zwischen wilden Partys und Abenteuern entdeckt sie mehr und mehr ihre eigene Macht als Autorin.
Flattery konzentriert sich insbesondere auf ihre Protagonistin, die in den Sog eines neuen, aufregenden Lebens gerät. Durch Maes Augen haucht sie einer von Mythen umwobenen Ära Leben ein. Und zeichnet die psychologisch fein ausgearbeitete Innenschau einer jungen Frau auf der Suche nach Geltung und Freiheit. Beiläufig verlagert sie hierbei den Fokus von den Berühmten auf die (weiblichen) vermeintlichen Randfiguren, die – unbemerkt von der Welt und dem Geniekult – ihr Dasein im Schatten der Kunst fristen, an der sie nicht unmaßgeblich mitwirkten.
Nicole Flattery: Nichts Besonderes | Hanser Verlag | 272 S. | 24 €
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