Kinokalender
Mo Di Mi Do Fr Sa So
7 8 9 10 11 12 13
14 15 16 17 18 19 20

12.606 Beiträge zu
3.829 Filmen im Forum

Navid Kermani
Foto: Heike Bogenberger

Nahrhafte Lektüre

31. Oktober 2023

„Das Alphabet bis S“ von Navid Kermani – Textwelten 11/23

Kein Buch muss man von vorne nach hinten lesen. Vor allem dieses nicht. Navid Kermanis Roman „Das Alphabet bis S“ kann man irgendwo aufschlagen, um sich dann festzulesen. In allen Richtungen lässt sich seiner Prosa folgen, gerade weil sie den Ausgangspunkt ihrer Reflexion nie verlässt. Im Grunde handelt es sich hier auch nicht um einen Roman, da seine Erzählerin auf den 600 eng gedruckten Seiten nur eine unwesentliche Entwicklung vollzieht. Die Bezeichnung „Roman“ ergibt sich aus der Tatsache, dass Navid Kermani seine Erzählstimme als die einer Frau ausgibt, er letztlich aber immer als die Person erkennbar bleibt, die er ist.

Genau darin besteht aber die Substanz dieses Buchs, mit dem man nie an ein Ende kommen möchte. Kermani reflektiert unsere Gegenwart. Anlass ist der Tod der Mutter, deren Beisetzung eine Art Klammer bildet, um über Familie, Vergänglichkeit und vor allem über Literatur nachzudenken. Der Titel bezieht sich auf die Bibliothek der Erzählerin, die sie alphabetisch ordnet, so dass sie gleich mit Peter Altenberg beginnen kann. Der eingefleischte Misanthrop Altenberg gibt Anlass, über Geschlechterverhältnisse zu sprechen. Bei Julien Green ist es das Sujet der Heiligkeit, das zum Thema wird, oder bei Helene Hegemann der Gegensatz der Generationen. Dazwischen wird am Rhein gejoggt und über die Hundehalter geklagt. Die Familie mit ihrer Bruchstelle zwischen deutscher und iranischer Welt bleibt stets präsent.

Unendlich viele Linien, die sich auch aus Kermanis Erlebnissen als Auslandsreporter ergeben, durchziehen die kurzen Textabschnitte. Bald ist man verführt, diese Essays wie Pralinés zu sich zu nehmen. Nahrhaft sind sie aufgrund ihres Erkenntnisgehalts. Der ist naturgemäß nicht immer von gleicher Dichte, enthält aber mitunter Passagen, die man nicht mehr vergisst. Wenn Kermani etwa die tiefgreifende Begegnung mit der Realität des Todes während der Leichenwäsche der Mutter beschreibt, oder die Sorge um das verletzte Kind. Dann wieder schenkt er den Banalitäten des Großstadtlebens seine Aufmerksamkeit, im Blick auf Köln versiegt ihm dabei niemals der Stoff. Mit diesem Buch und seinen herrlichen Betrachtungen zur Literatur kann der Winter jedenfalls gerne kommen.

Navid Kermani: Das Alphabet bis S | Hanser Verlag | 592 S. | 32 Euro

Thomas Linden

Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen?
Als unabhängiges und kostenloses Medium ohne paywall brauchen wir die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser. Wenn Sie unseren verantwortlichen Journalismus finanziell (einmalig oder monatlich) unterstützen möchten, klicken Sie bitte hier.

Neue Kinofilme

Superman

Lesen Sie dazu auch:

Alternative Realität in Tokyo
„Tokyo Sympathy Tower“ von Rie Qudan – Literatur 07/25

Zart und kraftvoll zugleich
„Perlen“ von Siân Hughes – Textwelten 07/25

Jugend & Freundschaft
Kurt Prödel liest im zakk in Düsseldorf

Flucht ins Metaverse
„Glühfarbe“ von Thea Mantwill – Literatur 06/25

Ein Hund als Erzähler
„Zorro – Anas allerbester Freund“ von Els Pelgrom und Sanne te Loo – Vorlesung 06/25

Im Reich der unsichtbaren Freunde
„Solche Freunde“ von Dieter Böge – Vorlesung 06/25

Bis zur Neige
„Der Durst“ von Thomas Dahl – Literatur 06/25

Ein Leben, das um Bücher kreist
„Roberto und Ich“ von Anna Katharina Fröhlich – Textwelten 06/25

Hartmut und Franz
Oliver Uschmann und sein Roman über das Verschwinden von Kafka – Literaturporträt 06/25

Die Spielarten der Lüge
„Die ganze Wahrheit über das Lügen“ von Johannes Vogt & Felicitas Horstschäfer – Vorlesung 05/25

Im Fleischwolf des Kapitalismus
„Tiny House“ von Mario Wurmitzer – Literatur 05/25

Starkregen im Dorf der Tiere
„Der Tag, an dem der Sturm alles wegfegte“ von Sophie Moronval – Vorlesung 05/25

Literatur.