Es ist eine illustre Reisegruppe, die sich im gerade einsetzenden Regen unter der Eisenbahnbrücke am Bochumer Busbahnhof zusammenfindet: Verlagsfrauen, Journalisten, Buchhändler, ein Filmteam und ein Autor. Der Knaus Verlag hat eingeladen, den neuen Roman von Marc Degens auf einer Bustour zu Originalschauplätzen kennenzulernen. Bücher und Pressemappen liegen auf den Sitzen bereit, Laugengebäck und Getränke werden gereicht, und dann kann es losgehen. Mit sichtlicher Vorfreude stimmt Degens auf die Fahrt ein: „Das ist auch eine schöne Gelegenheit für mich, mal zu sehen, ob alles überhaupt so stimmt, was ich geschrieben habe. Der Roman ist nämlich in Armenien entstanden“, verrät er. Während seine Frau von 2007 bis 2010 das Informationscenter des DAAD in Eriwan leitete, nutzte Marc Degens die Fremde, um sich intensiv dem Schreiben zu widmen und aus der Ferne die Programmarbeit für seinen SuKuLTuR Verlag zu machen. Als es nun Richtung Uni geht, weist der gebürtige Essener darauf hin, dass seine Studienzeit an der Bochumer Ruhr-Uni schon eine Weile zurückliegt. Dass es sich tatsächlich um eine ordentliche Zeitspanne handelt, wird deutlich, als Degens davon erzählt, wie er mit der Straßenbahn 306 zur Uni gefahren ist. Seit 1993 fährt hier die U35 im Innenstadtbereich unterirdisch …
Blutjunge Dilettanten
Degens gibt den kurzweiligen Gästeführer, deutet auf das IBIS-Hotel, in dem er und die Verlagsdamen untergebracht sind, direkt danach geht es an der schon legendären Ubu-Buchhandlung vorbei. „Ich habe immer gedacht, das steht einfach nur für Uni-Buchhandlung“, gesteht Degens, „erst als ich Stefan Kaminskis Lesung aus meinem Roman für den Buchtrailer gehört habe, erfuhr ich, dass man das auch französisch aussprechen kann, und dass es einen literarischen Namensgeber gibt.“
Als linkerhand die „Katzenstube“ kurz ins Blickfeld gerät, die seit einer ganzen Weile nicht mehr vom prägenden langbärtigen Horst geführt wird, blickt der Autor nostalgisch zurück, wie er dort einmal mit Hilfe ausholender Gesten und einer Kerze die Tischdecke in Brand gesteckt hat. Die Funken, die zwischen seinen Romanfiguren an diesem Ort springen, sind anderer Natur. Dann ist jedoch Konzentration angesagt, denn der Busfahrer erweist sich als ortsunkundig, und die gesamte literarische Reisegruppe wird in die Navigation zur G-Straße an der Uni einbezogen. Während die Damen aus dem Münchener Knaus-Verlag dem gängigen Klischee Rechnung tragen und sich noch wundern, wie grün es hier im Bochumer Süden ist, berichtet Degens, wie er damals Norwegisch belegte, um sein fehlendes Latinum durch den Nachweis dreier moderner Fremdsprachen wettzumachen und sich als einziger Schein-Abhängiger inmitten von Norwegen-Urlaubern wiederzufinden. Aus dieser Zeit datiert auch der erste musikalische Einspieler, den Degens kredenzt. Der Live-Mitschnitt eines Konzertes seiner Formation Superschiff, aufgenommen an der RUB im Jahre 1995 (anlässlich des Unistreiks) bietet den angepunkten Protestsong „ohne uns!“ Nicht umsonst nannten sich Superschiff zwischenzeitig auch „Die blutjungen Dilettanten“ – das Grinsen ist aus den Gesichtern der Mitreisenden kaum herauszubekommen. Beim Song „Ich bin der Buddha vom Bau“ von Stendal Blast samt Baggersolo und Werkssirene bricht sich dann lautes Lachen Bahn. Der Song führt Degens wieder zum Roman. Er erzählt, dass das reale Vorbild für die Figur eines Bauarbeiters eigentlich ein Coca-Cola-Fahrer war, dass er aber nichtsdestotrotz auf Erfahrungen auf dem Bau verweisen kann: „Das beschränkte sich allerdings weitestgehend darauf, dass ich ein halbes Jahr lang ständig eine Scheune ausgefegt habe, die wieder hergerichtet wurde.“
Weil die Kneipe „Zur Vorlesung“ in der Laerholzstraße bereits seit ein paar Jahren nicht mehr existiert, fällt die geplante Whiskyprobe aus („Das wird für den Verlag dann billiger“), und über Umwege geht es dann zurück Richtung Innenstadt, nicht ohne Hinweise auf Sehenswürdigkeiten: „Dort befindet sich das Studentenwohnheim Papageienhaus, das von meiner Lektorin gestrichen worden ist“, bringt Degens die mitreisende Claudia Vidoni in Bedrängnis, bevor er im rollenden Bus einen Auszug aus dem Roman liest, einer schwarzhumorigen Story über das Erwachsenwerden im Ruhrgebiet, einer Geschichte mit viel Lokalkolorit, der nicht aufgesetzt daherkommt.
Der singende Boxer
Der Pressemappe beigefügt ist ein Flyer zur Aktion „Situatives Brachland Museum“ von Matthias Schamp (www.brachland-museum.de). „Darauf bin ich zufällig gestoßen und finde es schade, dass wir die Busfahrt nicht an dem Tag machen konnten. Diese Aktion hätte Dennis sicherlich gefallen.“ Bildhauer Dennis ist einer der drei Protagonisten des Romans, und weil es sich um eine Persiflage auf den Kulturbetrieb handelt, ist das Kunstmuseum Bochum die letzte Station der Bustour. „Hier beginnt der Stadtpark, den ich sehr mag und der auch im Roman eine Rolle spielt“, doch die intensivsten Erinnerungen an das Museum Bochum sind wieder musikalischer Natur: „Im Jahr 2000 habe ich dort mit meinem musikalischen Kollegen an einem Talentwettbewerb teilgenommen. Zu der Zeit war ich bereits weg aus Bochum und hatte alle Hemmungen verloren. Ein Youtube-Video dieses Auftritts der Blutjungen Dilettanten kann man heute noch bestaunen. Wir haben an dem Abend den Sonderpreis gewonnen, mussten uns lediglich einer Britney Spears-Karaoke-Nummer geschlagen geben.“ Trotz dieses furiosen Erfolges musste sich Degens eingestehen, dass die Musik nicht sein natürliches Umfeld war: „Singen kann ich nicht, ein Instrument kann ich auch nicht spielen – aber ich wollte unbedingt dabei sein. In einigen Stücken von Superschiff kam mir dann die Rolle als eine Art ‚singender Boxer’ im Mittelteil zu.“ Und schon wird die Busbesatzung Ohrenzeuge dieses Hans Albertschen Sprechgesangs im Gassenhauer „Kleine dicke Frauen“ und des gefährlich schlagernahen „Lolita“. Den richtigen Ton jedoch trifft Degens in der Literatur.
Marc Degens: Das kaputte Knie Gottes I Knaus I 17,99 Euro
Ebenfalls empfehlenswert: Marc Degens: Unsere Popmoderne (Kolumnen) I Verbrecher Verlag I 13 Euro
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