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Empathisch-lakonische Texte im Stakkato-Takt – Lütfiye Güzel
Foto: Ulrich Schröder

„Keine Straßenkämpfe – noch nicht“

23. September 2016

Von Fremdheit und Loslassen: Lütfiye Güzel zu Gast in Mülheim – Literatur 09/16

Wir schreiben den 21. September 2016. Morgen ist kalendarischer Herbstanfang. Dennoch brennt die Sonne vom Himmel wie eine Supernova. Draußen vor der Tür der gut gefüllten „Dezentrale“ zeigt sich die Mülheimer Fußgängerzone weitgehend menschenleer. Das Setting erinnert ein wenig an Helge Schneiders legendären Film „Jazzclub“ – doch geht es an diesem Spätnachmittag nicht um Musik, sondern um Lyrik, Prosa und einen „Antiroman“ aus der Feder der Duisburger Autorin Lütfiye Güzel, die im Rahmen der „Interkulturellen Woche“ in der Stadt an der Ruhr zu Gast ist. In ihren Texten legt die 2014 mit dem erstmals vergebenen Fakir-Baykurt-Kulturpreis der Stadt Duisburg ausgezeichnete Autorin den Finger tief in die Wunden des Zeitgeistes. Und doch blitzt zwischen lakonischer Melancholie zuweilen ein gleißender Strahl der Hoffnung auf und zaubert ein Lächeln auf viele Gesichter im Publikum.

„Ich öffne beide Fäuste und lasse los“, lautet der Anfang des Auftaktgedichts, zugleich eine Hommage an den portugiesischen Dichter Fernando Pessõa, neben Aki Kaurismäki Inspirationsquelle für Güzels Texte. Am Ende steht eine schicksalhafte Begegnung mit einem Schlafenden im Park, der auf den ersten Blick tot zu sein scheint, sich dann jedoch als lebend erweist – und die Erkenntnis, dass es merkwürdig ist weiterzugehen, wenn einer noch atmet, und stehenzubleiben, wenn jemand nicht mehr atmet. Stakkatoartig geht es weiter – „ich lese so, wie ich rede und schreibe – einfach mitten in die Fresse“; so ist es nun mal Lütfiye Güzels Art vorzutragen. „Ich bin fremd hier, in meinen eigenen vier Wänden“, heißt es im nächsten Text. „Die guten Klamotten bewahre ich auf – für das Leben, das nicht mehr kommt.“ Die poetische Landschaft ist – wie die außerliterarische – durchdrungen von einer tiefen Kulturskepsis und Zukunftsangst: „Keine Straßenkämpfe – noch nicht.“   

Im Text „Sieben Bücher“ – eine ihrer „kurzen, kurzen Kurzgeschichten“ –, lotet Güzel die Abgründe einer am Kipppunkt balancierenden Verbots- und Kontrollgesellschaft aus, die zunehmend reaktionär alles bekämpft und ausgrenzt, was sich jenseits des Mainstreams bewegt. Für Spaßbremsen auf Partys etwa erwägt sie ironisch-sarkastisch ähnlich drastische Maßnahmen wie für andere latente Störfaktoren einer immer stromlinienförmigeren Gesellschaft: „Man könnte den Traurigen einen eigenen Bereich zuweisen – so wie den Rauchern; dann schaden sie nur sich selbst...“ Dennoch behält die Ich-Erzählerin einen ihr eigenen schwarzen Humor, der sie über den Dingen stehen und zuweilen mit dem Grotesken liebäugeln lässt: „Ich könnte mich von einer Brücke schmeißen – aber sie sind so hässlich, die Brücken hier.“

Folglich besteht ihr kürzestes Wortkunstwerk allein im Titel: „Dennoch“. Einen anderen Text mit dem Titel „Etagenbett der miesen Stimmung“ kommentiert Güzel selbstironisch lächelnd: „Das Beste an dieser Kurzgeschichte ist wirklich die Überschrift...“ Der Vater schenkt der Ich-Erzählerin „ein Notizbuch und einen Kugelschreiber, Marke Hirsch-Apotheke – kann ich gut gebrauchen.“ Wozu? Vielleicht, um „diese verdammte Welt zum Stillstand [zu] bringen“ durch den Akt des Schreibens – als Kontemplation oder auch als Strohhalm in einem chaotischen Ozean einer unbegreiflichen Realität voller Entfremdung und Verlust, in der das Schreiben nicht zuletzt als Kompass dient. „Weltschmerz“ wird temporär gemildert durch den Umgang mit Schreibutensilien.

Zuweilen aber stelle der eine oder andere die kurze Form ihrer Texte infrage – worauf sie unter dem Titel „Hey. Antiroman“ die Langform erprobt habe. „Sie marschieren wieder – überall auf der Welt“, beginnt der Text mit einer Bestandsaufnahme des weltweit erneut erwachenden Nationalismus und Militarismus. Vielleicht ist auch dies eine Folge einer kollektiv mangelnden Fähigkeit loszulassen und zu hoher Erwartungen ans Leben: „Wer erwartet, verliert.“ Das Motiv der „Verlorenheit“ findet sich auch in Güzels aphoristischer Lyrik wieder: „In der Zweiten Klasse fahren Menschen – in der Ersten fahren Sitze...“ Momentaufnahmen einer ausgeräumten, poetischen Landschaft prägen ihre Gedichte: „Die Trinkhalle leer, seit Monaten.“ Unter der fragilen Oberfläche aber brodelt es: „Es herrscht Krieg – schon immer.“ Eine Lösung wäre vielleicht noch ein Systemwechsel: „Stellt die Geldmaschine ab – dann rollt nichts mehr.“

Ein optimistischeres Licht auf Lütfiye Güzels Texte wirft die Außenwahrnehmung des befreundeten Duisburger Songtexters Werner Muth, der 2014 bei der englischen Übersetzung ihres ersten Buchs „Herz-Terroristin“ (Dialog-Edition 2012) mitgewirkt hat. „Zorn ist drin – aber auch Mitgefühl“, bilanziert Muth, bevor er eine ausgewählte Passage vorträgt, in der es um einen Streichelzoo-Besuch geht. Für die Alpakas hat die Protagonistin extra Möhren geschnitten. Leitmotivisch ist die Begegnung mit anderen Spezies negativen sozialen Erfahrungen gegenübergestellt – wenn nichts mehr helfe, denn müsse man eben in den Zoo und Gorillas zeichnen… In lupenreinem BBC-English trägt Werner Muth auf Bitte der Autorin zwei übersetzte Gedichte aus „Heart Terrorist“ vor, deren Titel ebenfalls einen naturbezogenen Referenzrahmen eröffnen, „pot flower“ und „water-phobia-fish“. Warum Muth beim Vortrag trotz Herbsthitze die Jacke nicht ablegt, erklärt sich am Ende des letztgenannten Textes: „I wear the jacket of love – but love has left no trace.“

„Die Zivilisation ist ein wackliger Zahn mit einer Schnur an der Türklinke“, mahnt Lütfiye Güzel im letzten selbstgelesenen Poem der Veranstaltung – um sich anschließend zu vergewissern, was denn hängengeblieben sei von der Lesung, und das Publikum zu fragen: „Hat noch jemand Lust, ein Gedicht vorzutragen?“ Zwei weitere Gäste trauen sich und intonieren Güzels Texte. Mitmachpoesie – eine schöne Interaktionsidee, die hoffentlich NachahmerInnen finden wird. Und vielleicht brechen sie dann ja doch nicht aus, die Straßenkämpfe, wenn endlich mehr miteinander geredet wird zwischen Menschen, die sich ansonsten immer fremd blieben.      

Ulrich Schröder

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