Nicht weniger als die größte Lesebühne Deutschlands feiert sich selbst, wenn am 7. August die „Literatour 100“ über die Bühne geht: Ein eintägiges Festival quer durchs ganze Ruhrgebiet, verteilt auf 26 Orte. 29 Künstler werden insgesamt 42 Veranstaltungen bestreiten. Moment, wo ist denn da die 100 zu finden? Ein Blick in die Pressemitteilung klärt auf: Dem am 8. August 2019 gegründeten Netzwerk literaturgebiet.ruhr gehören mittlerweile rund 100 der wichtigsten literaturveranstaltenden Organisationen und Einzelpersonen im Revier an. Das soll fast genau zwei Jahre und eine Pandemie später gefeiert werden.
Dass letztlich nur rund ein Viertel der vernetzten Institutionen teilnimmt, hat seine Ursache in hinlänglich bekannten Gründen, wie Antje Deistler, Leiterin des Literaturbüros Ruhr erläutert: „Ursprünglich war dieser erste gemeinsame Auftritt des Netzwerks für den 6.6.2020 geplant gewesen. Er ist inzwischen zweimal verschoben worden, aber beim 7.8. bleibt es jetzt, auch wenn das Festival deutlich kleiner ausfällt, als es unter normalen Bedingungen sicher geworden wäre. Auch ist der Termin in den Sommerferien ungewöhnlich. Gewählt haben wir ihn, weil der Herbst sehr voll sein wird und wir möglichst viel open air machen möchten und dafür auf Sommerwetter angewiesen sind. Wir hoffen, dass der August da mitspielt!“
„Aktuelle Titel präsentieren“
Und so kommt es, dass manche Veranstalter eine Sommerpause machen, manche sich angesichts der unsicheren Corona-Lage vorgenommen haben, erst im Spätherbst zu starten oder möglicherweise in diesem Jahr gar keine Veranstaltungen auf die Beine zu stellen. Manche haben schlicht keine coronagerechten Räumlichkeiten und auch keinen Außenbereich. Wieder andere schieben eine Bugwelle verschobener Veranstaltungen vor sich her und sind eigentlich schon für den Spätsommer und Herbst überbucht. Bei kommunalen Veranstaltern kann es zudem sein, dass Personal an Gesundheitsämter und Impfzentren ausgeliehen wurde und gar keine Kapazitäten vorhanden sind.
„Das alles war Herausforderung genug“, seufzt Deistler, „dazu kam, dass eine solche Großveranstaltung eigentlich lange im Voraus geplant werden müsste. Doch durch die Pandemie mochte kaum jemand mehr als zwei Monate im Voraus denken. Nicht nur auf Veranstalterseite, sondern auch die Autorinnen und Autoren mochten sich Anfang des Jahres noch nicht festlegen. Das Portfolio musste im Vergleich zum ersten Anlauf in 2020 nochmal geändert werden, da einige tatsächlich abgesagt hatten. Auch möchten wir als Veranstaltergemeinschaft ja aktuelle Titel präsentieren, was uns gelungen ist. Ich finde überhaupt, dass wir für die Hindernisstrecke, die wir hinter uns haben, ein richtig tolles Programm auf die Beine gestellt haben: Divers, spannend, für Kinder, Jugendliche und Erwachsene.“
Verknöpft
Werfen wir doch mal einen Blick auf das Angebot, das zwischen Moers im Südwesten und Hamm im Nordosten geboten wird – mit einer deutlichen Ballung im Zentrum. Da ist zum Beispiel die Bochumer Kinderbuchautorin Andrea Behnke, die in ihrem Roman „Die Verknöpften“ in das Bochum des Jahres 1938 führt – und dies anlässlich der Literatour 100 in Hattingen und Witten. Die Autorinnen Inge Meyer-Dietrich und Anja Kiel laden hingegen ebenfalls junger Zuhörer mit ihrem Ruhrgebiets-Fantasy-Roman „Die Hüter des Schwarzen Goldes“ in die unterirdische Welt der stillgelegten Bergwerke. Jugendliche hingegen kommen auf ihre Kosten bei den gemeinsamen Veranstaltungen mit Sarah Jäger (s. trailer Mai 2020) und Kathrin Schrocke. Waghalsige Fahrmanöver sind in beiden Jugendbüchern zu finden und so verspricht auch die Lesung rasant zu werden.
Richtig knallen lässt es Matthias Salewski von den Physikanten. Kein literarisches Erlebnis, aber erlebte Physik für die gesamte Familie beweist, dass Sachbuchthemen nicht trocken sein müssen. Natürlich trifft man an einem solchen Tag auch auf ein Ruhrgebiets-Urgestein wie Frank Goosen, der mit „Sweet Dreams“ ein weiteres Mal die 1980er Jahre im Revier aufleben lässt. Ebenso ist Werner Streletz, 2008 mit dem Literaturpreis Ruhr ausgezeichnet, keine Überraschung im Line-Up. Gemeinsam mit Zepp Oberpichler will er auf literarisch-musikalische Zeitreise gehen. Der Poetry-Slam ist mit Sandra Da Vina, Florian Wintels und Piet Weber vertreten. Anja Hirsch und ihren historischen Roman „Was von Dora blieb“ haben wir in der Juli-Ausgabe vorgestellt.
Gaga
Was gibt es Ungewöhnliches zu entdecken? Krimiautorin Melanie Raabe geht diesmal nicht auf Mörderjagd, sondern stellt ihr Buch über Lady Gaga vor. Das Buch ist in der KiWi-Musikbibliothek erschienen, und Deistler stellt klar: „Der Reiz dieser Reihe liegt gerade darin, dass es keine Bücher über die jeweiligen Musiker und Bands sind, sondern dass sich Autorinnen und Autoren in ihrer Rolle als Fan definieren und so die Rolle von Musik in unterschiedlichen Lebenssituationen beleuchten.“ So hat Lady Gaga in ihrer Extrovertiertheit mit Anteil daran, dass die Journalistin Raabe sich traute, Schriftstellerin zu werden. Und auch die Lyrik hat einen Platz im Programm: Lina Atfahs Gedichte, auf Arabisch und Deutsch vorgetragen, balancieren zwischen harten Schlaglichtern auf Flucht und Vertreibung und sinnlich-poetischen Bildern voller Anspielungen auf arabische Mythen.
Literatour 100 | Sa 7.8. | www.literaturgebiet.ruhr
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