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Kathleen Battke
Foto: Kathleen Battke

„Leben wie in afrikanischen Dörfern“

28. Juni 2018

Kommunikationsberaterin Kathleen Battke über Herausforderungen und Chancen im Alter

trailer: Frau Battke, wie sehen Sie die Situation alter Menschen heute?
Kathleen Battke: Ihre Anzahl wächst, der Markt hat sie als Zielgruppe im Visier – die Konsumgesellschaft ist wie immer der Politik voraus. Das Potential der älteren Generation ist aus meiner Sicht unterbelichtet, was die Selbstwahrnehmung angeht. Es gibt natürlich Lobbyvertreter für Seniorenrechte. Ich sehe jedoch nicht, dass sich die Älteren ihrem Weisheitspotential zuwenden. Ich würde von der vorherigen Generation gerne mehr lernen. Diese hat gelernt, „nein“ zu sagen und feiert das als Errungenschaft, auch zu Recht. Was mir fehlt, ist das Bewusstsein der eigenen Erfahrungen und diese so aufzubereiten, dass die nächsten Generationen gerne zuhören.

Wie sieht die Wohnsituation alter Menschen aus? Wie sollte sie aussehen?
Bei meiner Arbeit für das Landesbüro innovative Wohnformen NRW bestand intensiver Kontakt zu Älteren. Es kamen 68-Jährige, die nicht mehr allein leben wollen, bis hin zu über 80-Jährigen, die vielleicht in 10 Jahren ihre Wohnform ändern wollen. Viele sind alleine im Alter, vor allem Frauen. Auch sind viele von Altersarmut bedroht. Es gibt großen Bedarf an gemeinschaftlichen Wohnformen. Die Wünsche reichen von verlässlicher Nachbarschaft bis zu Freunden. Allerdings möchten viele ihre Gewohnheiten nicht ändern: Man möchte den Stadtteil, das Haus, den Freiraum nicht aufgeben. Es gibt ein Bewusstsein, dass es wahrscheinlich nicht bis zum Ende gutgeht, gleichzeitig sind viele nicht gemeinschaftsfähig. Da herrscht eine Diskrepanz. Bei der großen Vielfalt an Wohnformen und -möglichkeiten ist für jeden etwas dabei. Der Punkt ist, dass wir nicht in einer Konsumhaltung verharren können. Viele erwarten von einem Mehrgenerationen-Wohnprojekt Service wie im Altersheim. Stattdessen wird Selbstaktivität, Verantwortungsbereitschaft, Freude am Mitgestalten und Risiko gefordert. Das ist nicht bei allen in dieser Altersgruppe vorhanden. Vielmehr gibt es ein Bedürfnis nach Loslassen, Zur-Ruhe-Kommen, Mal-für-sich-sorgen-lassen. Da ist betreutes Wohnen oder ein Heim sicher die bessere Möglichkeit.

Sie leben im Mehrgenerationen-Wohnprojekt in Bonn. Wie stellt man sich das Zusammenleben von Jung und Alt idealtypisch vor? Wie ist es wirklich?
Die Idealvorstellung der Gründer war gespeist vom Leben in afrikanischen Dörfern. Dort wohnen alle Generationen zusammen. Man unterstützt sich gegenseitig, alle arbeiten, essen, feiern zusammen, die Kinder laufen frei herum – das war der Traum. Auch, mit Freunden zu wohnen. Man wollte sich mit dem Wohnprojekt eine Lebensperspektive aufbauen. Als Genossenschaft bestimmen wir über den Wohnraum. Keiner kann rausgeklagt werden, die Miete kann nicht beliebig erhöht werden. Wir haben uns so weit wie möglich vom Immobilienmarkt abgekoppelt. Zur Realität: Es ist ein Gutteil umgesetzt worden. Die Kinder fühlen sich frei, haben Vertrauen zu vielen. Es gibt gegenseitige Unterstützung, die leicht und schnell organisiert wird. Ernüchternd ist, dass die Hilfe vielleicht nicht so kommt, wie du sie dir gewünscht hast. Es gilt, Toleranz zu entwickeln und das zu nehmen was kommt. Das gilt auch für die Kinderbetreuung durch Ältere, auf die junge Paare angewiesen sind. Bei manchen passt es, bei anderen stellt man fest, dass es Unterschiede in den Erziehungsvorstellungen, der Verlässlichkeit oder im Umgang mit Kindern gibt. Die Ernüchterung besteht auch darin, dass die Gegenseitigkeit nicht ganz funktioniert. Die berufstätigen Jüngeren können sie sich nicht so einbringen. Sie helfen zwar Älteren mit Einkäufen, Reparaturen etc., haben aber weniger Zeit, am genossenschaftlichen Alltag teilzunehmen. Da ist Konfliktpotential.

Was passiert, wenn ein Bewohner pflegebedürftig oder dement wird?
Vor Jahren sind unsere beiden ältesten Bewohnerinnen langsam in die Pflegebedürftigkeit gewandert. Eine ist erblindet, die andere wurde taub. Da es sich um die Generation der Kriegskinder handelte, wurden zum Teil auch Traumata reaktiviert. Auch bei einem jungen Mann im Rollstuhl mit einer fortschreitenden, degenerativen Erkrankung war es nicht mehr möglich, ihn hier nachbarschaftlich zu betreuen. Wir haben die jeweiligen Angehörigen gebeten herzukommen und einvernehmlich Lösungen erarbeitet. In allen drei Fällen war das Heimunterbringung. Das hat uns geschmerzt, auch die drei, die nicht wegwollten. Das hat den Überlegungsprozess in Gang gesetzt, wie wir damit umgehen wollen. Wir planen, 16 Wohnungen mit einer integrierten Pflegewohngemeinschaft neu zu bauen. Seit zwei Jahren warten wir auf die Freigabe des Baugrundstücks durch die Stadt Bonn. Inzwischen überlegen wir neu, ob die damalige Planung noch immer die stimmige Lösung für unseren Wunsch ist, bis zum Lebensende in der Gemeinschaft bleiben zu können. Einen Platz in der Pflege-WG zu bekommen hängt stark ab von Pflegegrad, Diagnose und passendem Zeitpunkt. Daher fragen wir uns aktuell, wie wir den Entwurf weiter flexibilisieren können.

Sie waren Mitarbeiterin der NRW-Landesfachstelle „Trauma und Leben im Alter“, die Ende 2017 eingestellt wurde. Was war Ihre Aufgabe?
Wir haben Menschen beraten, die mit Alten in Kirchengemeinden, Seniorenbüros sowie im Gesundheits- und Pflegebereich arbeiten. Und haben sie in Vorträgen, Schulungen und Fortbildungen für Traumata sensibilisiert: Was ist ein Trauma? Wie kann man es in Pflegesituationen erkennen? Was kann ich tun? Viele erleben in der Betreuung sogenanntes unangepasstes Verhalten bei Älteren, wo die Gefahr besteht, dass diese medikamentös ruhiggestellt werden. Wir haben Material zur Verfügung gestellt, um Fachkräfte, Ehrenamtliche und Angehörige zu sensibilisieren, in Wahrnehmung und Reaktionsfähigkeit zu unterstützen. Mein spezieller Bereich ist die Arbeit mit Kriegskindern, also dass Kriegserfahrungen im Alter nochmal herauskommen, wie sie sich zeigen und wie damit umgegangen werden kann, um das Trauma nicht durch falsche Reaktionen zu reaktivieren oder zu vertiefen. Ein Beispiel: Ältere Männer, die im Zweiten Weltkrieg gekämpft haben und nun von osteuropäischem Pflegepersonal betreut werden, erfahren beim Hören bestimmter Akzente möglicherweise einen Flashback von schrecklichen Situationen, aber auch Scham- und Schuldgefühle, die keine Artikulation finden. Es geht darum, eine feine Wahrnehmung zu entwickeln und einen Umgang zu pflegen, der beruhigt, stärkt und schützt. Dafür haben wir Öffentlichkeitsarbeit gemacht. Wir hatten 2017 in Köln einen Fachtag, bei dem viele Anfragen aus Krankenhäusern, Altenheimen und ehrenamtlichen Stellen kamen. Diese können wir jetzt nur gegen Bezahlung beantworten.

Sie haben Bücher über Kriegskinder geschrieben, bieten Schreib-Workshops dazu an. Wie wirkt sich das Trauma von Kriegserfahrung aus?
Es geht zum einen um Kinder, die im Krieg direkte Gewalt erlebt haben. Ähnlich starke Folgen hat die Erfahrung, in einer Zeit aufzuwachsen, wo Hunger und Flucht herrschten. Wo keine Wurzeln geschlagen werden konnten. Eltern waren emotional abwesend, hatten keine Zeit, sich liebevoll um ihr Kind zu kümmern. Sie schämten sich, ihr Kind nicht schützen zu können. Die subtile Ebene von emotionalem Mangel und tiefer Verunsicherung hat Folgen, mit denen wir in der nächsten Generation zu tun haben. Bei den ab 1960 Geborenen trägt sich die Verunsicherung wie ein Echo fort. Sie haben weniger Kinder als andere Generationen. Viele sind beruflich unstet. Viele sind unsicher, was das Richtige ist. Die Schwierigkeit, im Leben Fuß zu fassen, ist ein Echo auf die Kriegserfahrung. Ich komme gerade von einer Friedenswoche in der Gedenkstätte Buchenwald mit 23 Personen der Enkelgeneration. In der Schlussrunde konnte das Ungesagte artikuliert werden. Die Teilnehmer konnten Worte für das Verdrängte finden, es integrieren. Das macht ein zerstückeltes Selbst heiler.

Mit Ihrem Mann Thomas Bebiolka arbeiten Sie an dem Reife-Projekt „NarbenGold“. Worum geht es dabei?
Das Projekt wurde am 60. Geburtstag meines Mannes geboren, als wir uns fragten, wie wir die nächsten zehn Jahre verbringen wollen. Wie können wir würdevoll sterben? Was muss dafür passieren? Die Arbeit mit Kriegskindern hat uns gezeigt, dass es nicht nur ein Dienst an Leidenden ist, sondern wir lernen, wie viel Kraft aus schweren Erfahrungen geboren wird. Was ist Reife und Weisheit im Alter? Wie kann ich meine Reife so entwickeln, dass nachfolgende Generationen etwas davon haben? Wie kann ich Wohnmöglichkeiten optimal kombinieren? Wie geht man mit Altersarmut um? Das sind Projektfragen. Wir entwerfen ein Trainingsprogramm für Resilienz, für würde- und sinnvolles Altern. Verbundenheit und Kooperation sollen sich entfalten hin zum Teilen und Reduzieren. Wohlgefühl und Sicherheit werden nicht durch Wohnraum und Besitz, sondern durch soziale Verbundenheit und Genügsamkeit abgedeckt. Die Potentiale liegen in gesellschaftlichen Bewegungen, die wir in einem Trainingsprogramm und einer Videoserie mit Beispielen verdichten wollen. Wir initiieren entsprechende Wohnprojekte. Wir kommunizieren unsere Erfahrungen und bilden eine Community, die das Reifeprojekt umsetzt. Ein Punkt ist, mehr zu sich selbst zu kommen als unsere Elterngeneration, also innere Arbeit zu leisten. Und neue Wir-Strukturen durch Sharing und Community zu bauen.


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Interview: Katja Sindemann

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