Nicht nur historische Details zur „Roten Ruhr-Armee“ erfuhren die BesucherInnen des Vortrags im Rahmen des „Offenen Antifa-Cafés“ im AZ Mülheim. Auch verweist der Referent, der in Zusammenarbeit mit Anke Pfromm selbst eine akribisch recherchierte, dreibändige Publikation zu „Kapp-Putsch und Märzrevolution 1920“ verfasst hat, auch auf literarische Quellen. So hat etwa der Literaturwissenschaftler und Diskurstheoretiker Jürgen Link dem revolutionären Mythos in seinem Roman „Bangemachen gilt nicht auf der Suche nach der Roten Ruhr-Armee“ ein über 900-seitiges literarisches Schein-Monument errichtet: Link bedient sich dort des Mythos vom letzten Versuch, die Weimarer Republik in eine Räte-Demokratie zu verwandeln und die Menschen ihr politisches Geschick selbst in die Hand nehmen zu lassen, als Chiffre für das spätere Scheitern der 68er-Bewegung.
Karl Grünberg hingegen hatte als Zeitzeuge und Mitgründer des 1928 ins Leben gerufenen „Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller“ einen gänzlich anderen Blick auf die etwa drei Wochen währende Märzrevolution an der Ruhr, die auf den faschistischen Kapp-Lüttwitz-Putsch folgte. Nüchtern orientiert sich Grünberg in seinem im Gründungsjahr des Schriftstellerbundes erschienenen Roman „Brennende Ruhr“ an den historischen Fakten des Frühjahrs 1920, als zunächst reaktionäre Teile der Reichswehr die Macht in Berlin an sich rissen und darauf ein Generalstreik, der im Ruhrgebiet für drei Wochen bis zu 90 Prozent der Industrie stillstehen ließ, entscheidend dazu beitrug, den Rechtsputsch zu beenden. Als dann die aus Kommunisten, Linkssozialisten sowie – mit einem Schwerpunkt in Mülheim – Anarchosyndikalisten bestehenden Arbeiterräte die samt Waffen und Produktionsmitteln eroberte Macht nicht mehr aus der Hand geben wollten, verleugnete die Sozialdemokratie ihre anfängliche Unterstützung des Streiks und der SPD-Reichswehrminister Noske ließ die Märzrevolution an der Ruhr militärisch beenden.
Die Suche nach Spuren der im März 1920 aus zeitweise rund 100.000 bewaffneten Arbeitern – Frauen durften keine Waffe in die Hand nehmen – bestehenden „Roten Ruhr-Armee“ sei, so Günter Gleising in seinem Vortrag, verknüpft mit „Themen, die eigentlich bis heute präsent sind“. Das Scheitern der Revolution an der Ruhr durch den rigorosen Einsatz des Militärs auf Veranlassung eines Sozialdemokraten symbolisiert wie vielleicht kein anderes historisches Ereignis die Zersplitterung der Linken in der Weimarer Republik. So wird auch die Polarisierung innerhalb des linken Spektrums zwischen KPD und SPD erklärbar, die 1932 einen letzten Versuch unterminierte, die sich anbahnende nationalsozialistische Machtergreifung durch einen erneuten Generalstreik zu verhindern. Und vielleicht kann der – viel zu selten getätigte – Blick zurück ins Revolutionsjahr an der Ruhr dazu beitragen, ähnliches Übel künftig zu verhindern. Das Autonome Zentrum Mülheim jedenfalls leistet hierzu mit seinem jeden dritten Mittwoch im Monat stattfindenden Antifa-Café seinen besonderen Beitrag.
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