Im Grunde war die Neugierde schon immer sein Thema. Wem das Lesen zur Passion wird, für den besteht die Welt aus unendlich vielen Dingen, die das Interesse auf sich ziehen. Den heute 68-jährigen Alberto Manguel hat die Weltlust des kleinen Jungen nie verlassen. Als einer der letzten Universalgelehrten vermag er noch alles mit allem in Beziehung zu setzen. Ihn führen nicht Information und Links, sondern Inhalte zu den Dingen. Das hat er in seiner „Geschichte des Lesens“ gezeigt, die er dann mit dem Band „Bilder lesen“ fortsetzte, indem er die visuellen Texturen zum Gegenstand der Lektüre machte. Stets geht es darum, wie das scheinbar Banale Bedeutung annimmt. Im Rückblick zeigt sich dann, wie sogar die Heftchenromane der Schulzeit zur geistigen Nahrung eines Kindes wurden, das sich mit jeder Geschichte tiefer in die Welt des Wissens hinein kämpfte. Sein neues Buch „Eine Geschichte der Neugierde“ demonstriert allerdings auch, dass es weniger auf die Antworten als auf die Fragen ankommt.
Aufgewachsen ist Manguel in Buenos Aires und Tel Aviv, später arbeitete er als Lektor in Toronto, das Buch greift die Biografie in Fragmenten wie kleine Inseln im Strom des Lebens auf. Unterlegt ist diesen Passagen die Lektüre von Dantes „Göttlicher Komödie“, sie wird Manguel zu einer Art Textur, in der er die abendländische Kultur bis in die Details der Gegenwart wiederfindet. Die Neugierde stellt in diesem Gebilde den Antrieb für den Fortschritt, die Kunst und das Scheitern dar, aus dem wir wieder die Erfahrung zum neuerlichen Beginn gewinnen.
Die Methode ist das Fragen, mit dem sich die Kapitel verbinden. Wie lassen sich die Gedanken sichtbar machen, oder was ist die Sprache? Stets entwickelt sich ein Diskurs, der Geschichte und Philosophie verzahnt. Wenn Manguel fragt, worin wir uns unterscheiden, dann erklärt er, wie das Machtgefälle zwischen den Geschlechtern entstanden ist, und wie es bis in die Komplimente hinein bis heute in der Sprache wirksam bleibt. Hinter der Frage „Warum geschehen solche Dinge?“ forscht er nach dem Bösen und steigt in eine noch schwärzere Hölle hinab, als sie Dante beschreibt. In dessen Inferno besteht noch eine Verbindung zwischen Leiden und Handeln, während in den Berichten, die Primo Levi nach Auschwitz schrieb, das Böse ohne Begründung bleibt und sich der Sprache entzieht.
Letztlich steht die Frage im Raum: „Was ist die Wahrheit?“ Für den Autor Manguel stellt sie sich jedoch anders, da die Wahrheit nicht konkret formuliert werden kann, sondern nur in Geschichten – also in Täuschungen – mitgeteilt wird. Zwischen Autor und Leser muss es einen augenzwinkernden Pakt geben, der die Unwahrheiten der Fiktion akzeptiert. Wie gerne geht man ihn mit Manguel und seinem klugen, kenntnisreichen und immer wieder überraschenden, unterhaltsamen Streifzug durch die Geistesgeschichte Europas ein.
Alberto Manguel: Eine Geschichte der Neugierde | A. d. Engl. v. Achim Stanislawski | S. Fischer | 528 S. | 24,99 €
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