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Alexander Graef
Foto: Felix Matthies (Ausschnitt)

„Diplomatie ist keine Schönwetter-Praxis“

27. April 2022

Kulturwissenschaftler Alexander Graef über politische Reaktionen auf den Ukraine-Krieg – Teil 3: Interview

trailer: Herr Graef, die Regierung hat der Bundeswehr ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro zugesprochen. Was ist damit gemeint?

Alexander Graef: Es hat zum Sondervermögen in der Öffentlichkeit zunächst einige Unklarheiten gegeben: Handelt es sich dabei um Geld, das zusätzlich zu einem wachsenden Verteidigungshaushalt hinzukommt oder soll damit lediglich das Zwei-Prozent-Ziel innerhalb der NATO erreicht werden? Der Finanzminister hat inzwischen klargestellt, dass Letzteres gemeint ist. Deutschland liegt momentan bei den Verteidigungsausgaben gemessen am Bruttoinlandsprodukt bei ungefähr 1,4 Prozent. Bis 2025 sollen es durchgehend 2 Prozent sein. In den vergangenen Jahren lag der Verteidigungshaushalt zwischen 40 und 50 Milliarden Euro im Jahr. Dieser müsste dann sprunghaft in den nächsten vier bis fünf Jahren auf jährlich ungefähr 70 Milliarden Euro anwachsen. Diese Ausgaben werden nun zunächst über das Sondervermögen finanziert. Damit ist natürlich kurzfristig eine zusätzliche Neuverschuldung bzw. eine Verringerung von Ausgaben in anderen Bereichen verbunden. Es stellt sich auch die Frage der Nachhaltigkeit: Was geschieht eigentlich nach 2025? In der Vergangenheit bestand das Problem, dass langfristige Militärprojekte von der politischen Konjunktur abhängig waren. Dabei geht es beim Militär um Anschaffungen, bei denen von der Entscheidung bis zur Auslieferung manchmal bis zu 20 Jahre oder mehr vergehen können. Für deren Finanzierung müssen Möglichkeiten geschaffen werden. Das war wohl auch Scholz‘ Grundgedanke bei der Einrichtung des Sondervermögens. Aber wie man das letztlich praktisch umsetzen wird, ist noch nicht klar.

Die Nato verdoppelt ihre Kräfte nach Osten hin. Führt die Entwicklung zu einem neuen Eisernen Vorhang?

Der Begriff „Eiserner Vorhang“ bezieht sich zunächst weniger auf die militärischen Entwicklungen. In den letzten zehn Jahren hat es mit Russland ohnehin kam noch Kooperationen in diesem Bereich gegeben. Es gab noch vereinzelte Treffen im Nato-Russland-Rat, aber alle gemeinsamen operativen Maßnahmen, die man in diesem Rahmen bis 2012 durchgeführt hat, haben seitdem nicht mehr stattgefunden. Deshalb ist der Begriff des „Eisernen Vorhanges“ zumindest militärisch wenig aussagekräftig. Wenn davon heute die Rede ist, dann geht es vielmehr um das Kappen von Verbindungen in der Wirtschaft, insbesondere im Energiebereich, aber eben auch in der Kultur und in der Wissenschaft. Das wird enorme Auswirkungen auf den gesellschaftlichen Austausch haben.

Militärische Überlegenheit auf dem Papier lässt nur bedingt Rückschlüsse auf Erfolgsaussichten zu“

Ist Abschreckung mit konventioneller Bewaffnung zwischen nuklear bewaffneten Mächten überhaupt effektiv?

Die Idee hinter dem Begriff der Abschreckung ist zunächst simpel: Man versucht den Gegner zu überzeugen, dass eine erfolgreiche Eskalation nur zu sehr hohen eigenen Kosten möglich wäre, oder aber, dass die politischen Ziele selbst dann nicht zu erreichen sind. Die erste Variante bezeichnet man auch als Abschreckung durch Bestrafung (punishment), die zweite Variante als Abschreckung durch Erfolgsvereitlung (denial). Letztlich kommt es darauf an, einen psychologischen Effekt beim Gegner zu erzielen, so dass ein vielleicht zunächst geplanter Angriff ausbleibt. Grundsätzliche Überlegungen zu diesen Fragen sind hauptsächlich im Kontext von Nuklearwaffen gemacht worden, weil deren Zerstörungskraft so eindeutig ist, dass die Androhung als glaubwürdig gilt. Das gilt – zumindest zwischen den USA und Russland – spiegelbildlich: Es herrscht ein Gleichgewicht des Schreckens. In der Ukraine sehen wir nun aber, dass beim Einsatz von konventionellen Waffen eine viel größere Unsicherheit herrscht. Russland hat unerwartet große militärische Verluste erlitten. Eine militärische Überlegenheit auf dem Papier lässt eben nur bedingt Rückschlüsse auf die tatsächlichen Erfolgsaussichten zu. Das macht Abschreckung allein mit konventioneller Bewaffnung schwierig. Letztlich dienen konventionelle Maßnahmen der Nato wie die Verdopplung der Kampfgruppen an der Ost- bzw. Südflanke deshalb vor allem der Rückversicherung unter den Partnern. Man kommuniziert damit, dass man zusammenhält und Stärke gegenüber Russland zeigt. Man ist solidarisch und agiert gemeinsam. Das erzeugt gegebenenfalls aber auch politische Effekte beim Gegner. Darüber hinaus darf man sich aber nichts vormachen: Die gegenwärtig vier, später acht Kampfgruppen im Rahmen der verstärkten Vornepräsenz (Enhanced Forward Presence) der Nato sind nicht sehr groß. Sie haben jeweils eine Stärke von etwas über 1.000 Mann. Ich kann mir allerdings gut vorstellen, dass diese Gruppen sehr bald dauerhaft an der Ost- bzw. Südflanke stationiert werden. Bisher rotieren die Truppen noch und werden alle sechs Monate ausgetauscht, um die Nato-Russland Grundakte von 1997 formal einzuhalten. Dort hatte die Nato erklärt auf eine solche dauerhafte Stationierung in den neuen Bündnisgebieten zu verzichten. Aber wir leben heute in einer anderen Zeit.

Es wird zu mehr militärischer Aktivität kommen, auch dann, wenn der Krieg in der Ukraine zu Ende ist“

Wie könnte eine langfristige Strategie auf russischer Seite aussehen?

Auf dem Papier ist Russland der Nato im Raum des östlichen Bündnisgebiets, vor allem im Baltikum, konventionell überlegen. Das ist letztlich auch der Geographie geschuldet, weil Russland eine ganz andere strategische Tiefe besitzt. Das kann die Nato nicht ausgleichen, auch wenn sie im globalen Maßstab eindeutig überlegen ist. Das soll und muss sie aber auch nicht, weil es zunächst nicht vorrangig darum geht, einen sub-regional begrenzten, konventionellen Krieg gegen Russland zu führen und zu gewinnen, sondern diese Stufe der Eskalation überhaupt zu verhindern. Dafür muss die Nato der russischen Führung aber auch deutlich signalisieren, dass man in der Lage und auch bereit ist, im Konfliktfall umfassend zu reagieren und entsprechende Kräfte schnell zusammenzuziehen. Auch die überzeugend dargelegte Bereitschaft zur nuklearen Eskalation spielt hier eine Rolle. Sie soll letztlich ebenfalls abschrecken. In Zukunft könnte es sein, dass Russland seine militärische Präsenz in der Exklave Kaliningrad weiter verstärkt, um seinen Zugang zu sichern und seinerseits abzuschrecken. Gleichzeitig sind dort bereits seit 2018 dauerhaft sogenannte Iskander-Raketensysteme stationiert, die prinzipiell in der Lage sind, Ziele in fast ganz Europa zu treffen. Russland könnte auch seine Truppenpräsenz im westlichen Militärbezirk ausbauen oder dauerhaft Truppen in Belarus stationieren. Ich nehme an, es wird generell zu mehr militärischen Aktivitäten kommen, auch dann, wenn der Krieg in der Ukraine erst einmal zu Ende ist. Die Nato und Russland müssen deshalb vor allem vorsichtig sein, dass es nicht zu unbedachten Zwischenfällen kommt, die dann zu einer ungewollten Eskalation führen, die eben immer auch eine nukleare Dimension haben könnte. Dafür wird man militärische Kommunikationskanäle offenhalten müssen. Aber es ist im Grunde zu früh, darüber im Detail zu spekulieren. Wir stehen am Anfang einer längerfristigen strategischen Auseinandersetzung.

Schon zuvor stellte das Bundeswehrbudget mit ca. 45 Milliarden Euro den zweithöchsten Posten im Bundeshaushalt. Warum wurde er so ineffektiv eingesetzt?

Man muss sagen, dass wir in den letzten 30 Jahren eine enorme Verzögerung bei vielen Rüstungsvorhaben gesehen haben. Das hat viel mit schlechter politischer Planung und Defiziten im Beschaffungswesen zu tun. Aus diesen Verzögerungen ergeben sich dann natürlich Folgekosten. Preise steigen über die Zeit aufgrund der Inflation. Es entstehen neue Anforderungen, die bei der Beschaffungsentscheidung für militärische Systeme noch nicht bestanden. Unter Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen hat man das Beschaffungswesen zu reformieren versucht – bisher ohne durchschlagenden Erfolg. Deswegen ist auch die Kritik berechtigt, dass das Geld, über das jetzt gesprochen wird, allein nicht ausreicht. Im Gegenteil. Beim Verteidigungshaushalt handelt es sich, wie Sie sagen, schon heute um den zweitgrößten Posten im Bundeshaushalt. Mit einer effizienteren Verwendung der Gelder wäre schon viel gewonnen.

Mit einer effizienteren Verwendung der Gelder wäre schon viel gewonnen“

Wie könnte diese Summe von 100 Milliarden nutzbringend eingesetzt werden?

Die Bundesaußenministerin hat hat im Kontext der Entwicklung einer Nationalen Sicherheitsstrategie betont, dass es nicht nur um die Bundeswehr und die Beschaffung von Material geht, sondern auch um den Ausbau von Stabilisierungshilfe und Cyber-Infrastruktur. Davon würden dann vermutlich auch andere Institutionen profitieren, zum Beispiel das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik. Das sind alles Aspekte, über die jetzt erst noch beraten wird. Ich glaube aber, wir müssen erst einmal sehr klug überlegen: was steht eigentlich an, was ist sinnvoll? Wir brauchen eine strategische und operative Lageanalyse. Wir müssen entscheiden, was wir politisch erreichen wollen und wozu wir unsere Streitkräfte brauchen, auch und gerade unter dem Gesichtspunkt des veränderten Status Quo in Europa. Wenn man die Gelder planlos ausgibt, besteht die Gefahr, dass sie versickern, ohne dass man seine strategischen Ziele erreicht.

An welchen Stellen wird dieses Geld nun fehlen?

Um das einschätzen zu können, müssen wir den Beschluss zum Bundeshaushalt im Sommer abwarten. Das Hauptproblem ist, dass wir erst einmal wieder neue Schulden machen werden. Wir haben schon im vergangenen Jahr eine gewaltige Neuverschuldung aufgrund der Corona-Pandemie erlebt. Diese Ausgaben werden uns noch eine Weile begleiten. Jetzt kommen noch zusätzliche Schulden hinzu und damit entstehen natürlich Ziel- und Interessenkonflikte, zumal die allgemeine Schuldenbremse bestehen bleiben soll. Da entstehen Fragen, die die Politik beantworten muss: Wie lange sind diese Maßnahmen gerechtfertigt? Wann werden diese Schulden zurückbezahlt? Und wer zahlt sie?

Droht ein Paradigmenwechsel, durch den die Diplomatie hinter eine Politik der Konfrontation zurücktritt?

Diplomatie ist nicht nur eine Schönwetter-Praxis. Das kann sie natürlich auch sein, aber Diplomatie ist insbesondere dann vonnöten, wenn Beziehungen sehr schwierig sind. Diplomatie hat immer etwas mit dem Vertreten eigener Interessen gegenüber anderen zu tun. Das gilt nicht nur gegenüber Russland, sondern auch gegenüber anderen Staaten, selbst gegenüber Verbündeten. Insofern besteht der Gegensatz nicht zwischen Konfrontation und Diplomatie sondern in einer Art von Diplomatie gegenüber einer anderen Art. Ein wirklicher Paradigmenwechsel findet dagegen gerade in der Energiepolitik statt, indem Deutschland erklärt, in wenigen Jahren unabhängig von Russland sein zu wollen. Gleichzeitig glaube ich nicht, dass wir, zumindest in Deutschland, einen völligen Wandel der militärischen Kultur erleben werden. Es wird sicherlich zu Veränderungen kommen, aber diese würde ich nicht als Paradigmenwechsel bezeichnen. Der dritte Aspekt ist der Austausch im Bereich der Wissenschaft und Kultur, der, so scheint es zunehmend, ebenfalls abgewickelt werden soll. Das ist die falsche Strategie. Während des Kalten Krieges ging es darum, den Menschen hinter dem Eisernen Vorhang freien Zugang zu Informationen zu gewähren, die Vorzüge des eigenen Lebensmodells aufzuzeigen. Das hat funktioniert.

Dieser Krieg ist ein Katalysator für Entwicklungen der letzten 15 Jahre“

Welche Gewinner und Verlierer der angestoßenen Entwicklung sind denkbar?

Wenn wir auf unsere eigene Gesellschaft blicken, dann werden diejenigen gestärkt, die aus Gründen, die mit dem Krieg in der Ukraine wenig zu tun haben, schon immer eine stärkere Akzeptanz und bessere Finanzierung der Bundeswehr sowie einen Wandel der politischen Kultur gefordert haben. Das betrifft ganz unterschiedliche Interessengruppen, von Rüstungsunternehmen bis hin zu unterschiedlichen Vereinigungen und zivilgesellschaftlichen Institutionen, denen diese Themen wichtig sind und die der deutschen Politik in der Vergangenheit zum Teil Naivität vorgeworfen haben. Für diese gilt: Sicherheit in Europa kann es nur noch gegen, nicht mit Russland geben. Andererseits geraten diejenigen in die Defensive, die von einer gesamteuropäischen Sicherheitsordnung als normatives Ziel ausgegangen sind. Grundlage dafür war immer eine Art Interessensausgleich, selbst mit autoritären Staaten wie Russland. Das ist die deutsche Grundhaltung nach 1991 gewesen. Gegenwärtig sind wir aber in einer Situation, in der Verteidigung Priorität hat. Die Argumente dafür sind angesichts des Krieges in der Ukraine auch leicht jedem verständlich. Das geschieht fast reflexartig. Trotzdem ist das nur die halbe Miete. Wir müssen auch strategisch und langfristig denken, denn Russland wird nicht einfach verschwinden. Es ist momentan jedoch schwierig nach Wegen für eine zukünftige politische Ordnung auf dem Kontinent zu suchen, ohne als naiv zu gelten. Die Notwendigkeit sich darüber auch heute schon Gedanken zu machen ist angesichts realer Bedrohungen auch schwer zu vermitteln, sowohl in der Öffentlichkeit als auch gegenüber politischen Entscheidungsträgern. Diejenigen, die dies dennoch versuchen, stehen vor enormen Herausforderungen. Auf geopolitischer Ebene müssen wir uns darauf einstellen, dass wir am Anfang einer längerfristigen Auseinandersetzung stehen, und zwar nicht nur mit Russland. Wir sehen, dass dieser Krieg ein Katalysator für Entwicklungen ist, die wir in den letzten zehn, fünfzehn Jahren bereits gesehen haben. Das betrifft die Rolle des Westens, das betrifft aber auch die Rolle Chinas und Indiens, und generell Asiens. Wenn Sie auf die Weltkarte schauen, welche Staaten Sanktionen gegen Russland erlassen haben, dann sehen Sie, es ist der Westen – also die EU und europäischen Nato-Staaten, die USA, Kanada, Australien, die Schweiz und einige Verbündete in Asien, aber eben nicht Indien, nicht China und kaum ein Staat in Lateinamerika oder Afrika. Momentan mag dieser Umstand angesichts der ökonomischen Stärke des Westens noch nicht allzu sehr ins Gewicht fallen, aber wir sehen, dass die Dinge in Bewegung geraten. Der Begriff der Zeitenwende gilt auch global.


ZEITENWENDE - Aktiv im Thema

iwkoeln.de | Die Ökonomin Sarah Fluchs skizziert in den Nachrichten des Instituts der deutschen Wirtschaft, wie Kriege die Umwelt schädigen.
nabu.de/news | Der Naturschutzbund Deutschland betont angesichts des Kriegs in der Ukraine den Zusammenhang von sicherheits- und umweltpolitischen Herausforderungen.
greenpeace.de/frieden/krieg-umwelt | Der Greenpeace-Beitrag diskutiert am Beispiel des Irak, wie Kriege sich gezielt auch gegen die Umwelt richten.

Fragen der Zeit: Wie wollen wir leben?
Schreiben Sie uns unter meinung@trailer-ruhr.de

Interview: Christopher Dröge

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