Unheimlich, wenn die Zeit anscheinend zusammenschmilzt und legendenhaft weit entfernte Welten plötzlich ganz frisch im Jetzt auftauchen. Eine der letzten lebenden Tenorsax-Ikonen einer eigentlich abgeschlossenen Jazzgeschichte, der 1930 geborene Sonny Rollins, umschrieb das aktuelle Beben in Jazzkreisen mit dem Fund einer „neuen Kammer in einer der großen Pyramiden von Gizeh“. Daraus darf der Jazzfreund zunächst folgern, dass für Rollins der Jazz schon eine sehr alte Sache ist. Aber niemand sollte vergessen, dass die meisten geöffneten Kammern im Tal der Könige leer waren.
Wir beschäftigen uns allerdings an dieser Stelle weder mit den leidigen Grabräubern noch mit Mumienschätzen, sondern mit einem aus dem Nichts auftauchenden vollständigen Studio-Album des John Coltrane Quartet. Diesen Umstand betont der jetzt verliehene Titel „The Lost Album“, ein Hollywood-trächtiger Name, der auch entsprechend zündete. Die Veröffentlichung stürmte in diesem Sommer weltweit die Pop-Albumcharts, in Deutschland bis auf Platz 3. In einer Woche verkaufte sich das Ereignis sechsstellig, das ist in unseren Tagen eine wirkliche Sensation. So feiert John Coltrane fünfzig Jahre nach seinem frühen Tod seinen größten Erfolg – mit einem Produkt, das es in den frühen Sechzigern nicht aus dem Studioraum in die Öffentlichkeit geschafft hat.
Ein Jazzmusiker in diesen Tagen führte ein sehr aufregendes zeitintensives künstlerisches Leben. Einen Tag nach der jetzt präsentierten Aufnahme stand Coltrane schon wieder in dem Studio des Tonmeisters Rudy Van Gelder, um sich versammelt genau die Musiker des Vortags, um mit dem Sänger Johnny Hartman einen Klassiker der Jazzgeschichte zu produzieren. Alle Titel dieser Schallplatte wurden an einem Tag eingespielt, die meisten mit einem einzigen Take, wie Hartman später erzählte – der Jazz gebar und gebiert unvergleichlich schneller einen neuen Tonträger als die Legenden des Pop bzw. Rock. Denn auch damals ging es nur um die Interpretation von bestehenden Kompositionen.
„Ich brauchte diese Aufnahme nicht“, so bewerten heutige gestandene Jazzmusiker, die ihren Coltrane und das klassische Quartett mit McCoy Tyner am Klavier, dem früh verstorbenen Jimmy Garrison am Bass und dem legendären Schlagzeugrevoluzzer Elvin Jones studiert haben, diesen Fund. Die meisten Titel der Sensations-Aufnahme gibt es bereits auf anderen Studio-Takes, einige Blues-Stücke pendeln namenslos dazwischen. Was bei den mitgeschnittenen Titeln wirklich fasziniert, ist die entspannte Risikofreude der Spieler, besonders vom tobenden Pulsgeber Jones und dem Chef selbst, dem saubere Linien oder klare Töne völlig egal sind, der wirklich auf dem Rande zum Unbekannten surft – ein mitgeschnittener Live-Act ohne Publikum, der eigentlich danach klingt, keine Veröffentlichung anzustreben. Da dürfen wir also ganz heimlich Mäuschen spielen, das macht natürlich Spaß. Hauptgewinn dieser vielleicht ungewollten Auferstehung wird allerdings die Aufmerksamkeit sein, die diesem großen Prediger der Saxophonkunst heute entgegenschlägt – trotz kompromissloser und anspruchsvoller Musik.
John Coltrane – Both Directions At Once: The Lost Album | Label Impulse! | www.impulse-label.com
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