Atemloses Stakkato, den Bildern und Gedankengängen bleibt keine Zeit, sich im Hirn des Zuhörers zu verwurzeln – wer eine Lesung des jungen Autors Jörg Albrecht besucht, dessen Aufmerksamkeit ist konstant gefordert. Schon zu Zeiten seines Romans „Drei Herzen“, mit dem der in Dortmund aufgewachsene Albrecht 2006 debütierte, nutzte er zudem den Verfremdungseffekt eines Megaphons. Später mündeten Kollaborationen mit dem Musiker Matthias Grübel und der Einsatz von Videos in multimediale Literaturperformances. Sehr treffend beschreibt der Dortmunder Autor Mirko Kussin (siehe trailer 06/12) die Arbeit seines Kollegen: „Ich mag das ‚Viele‘ in seinen Texten. Alles fließt ineinander, überlagert sich, produziert Echos, Feedbacks, Hall, Rauschen, Stimmengewirr. Gleichzeitig. Das sind Texte für die Ohren und das Herz.“
Im Frühjahr 2012 erschien mit „Beim Anblick des Bildes vom Wolf“ Jörg Albrechts dritter Roman, der Werwölfe in der Kreativwirtschaft aufspürt. Neben den Romanen erarbeitet Albrecht auch Hörspiele und Theaterstücke. Für „Orlac Hand Out“ wurde ihm kürzlich beim Theaterfestival FAVORITEN 2012 der Preis des Landes NRW für besondere künstlerische Leistungen verliehen. Die Frage, ob er an Theatertexte anders herangeht als an Prosatexte, verneint Albrecht und gewährt gleichzeitig Einblick in seine akribische Schreibarbeit: „Die Arbeitsweise ist gar nicht so anders: Es geht nämlich meist – egal ob Prosa oder Theater oder Hörspiel – um zwei Dinge, die erst mal nicht besonders gut zueinander passen. Zum Beispiel waren das in der jüngsten Vergangenheit: Stadtmarketing und Pornographie, Spukschlösser und Transgender, oder bei meinem dritten Roman: Werwölfe und Creative Industries. Es gibt also erst mal eine Differenz zwischen zwei Themen, und daraus entsteht die Forschungsarbeit: Material zu diesen Themen aus verschiedenen Quellen herbeischaffen, das Material dann ordnen, und dieses Ordnen ist dann oft auch schon der Schreibprozess. In allen Textsorten geht es auch immer um jemanden, der sich mit den Themen auseinandersetzt, und der auf ähnliche Widersprüche, Lösungen und Fehler stößt wie ich. Beim Theater gibt es dann zusätzlich noch ein riesiges Drumherum: Es gibt jemanden, der inszeniert, es gibt Schauspieler/Performer, eine Bühne, eventuell Video, Musik usw. Bei der Prosa gibt es vor allem noch den Leser, der sich mit dem Text verbindet. Das läuft meist darauf hinaus, dass ich die losen Enden im Theater noch loser lassen kann, da es da immer noch eine ganze Bande von anderen Leuten gibt, die zusätzlich Ordnung reinbringen können – während es bei der Prosa vielleicht ein bisschen mehr roten Faden gibt, um den Leser bei den Themen zu halten.“
Die Liebe zum Analogen
Auffällig sind im Werk des 1981 geborenen Autors die zahlreichen Reminiszenzen an „alte“ Speichermedien wie zum Beispiel Dias oder Tonbänder. „Ich bin generell sehr mit dem Übergang vom Analogen zum Digitalen beschäftigt. Die alten Medien haben eben eine andere Weise zu erzählen als die neuen. Aber das ist nicht zwangsläufig mit Nostalgie verbunden. Ich denke, das Digitale ist – selbst wenn es manchmal so aussieht wie das Analoge, oder sich so anhört – etwas komplett anderes. Indem ich beide Sphären anschaue, versuche ich auch, diesen Unterschied zu fassen zu bekommen, der für die meisten Menschen zwar spürbar ist, aber noch nicht so richtig beschreibbar. Das gilt ja auch – vielleicht sogar besonders – fürs Kino, das für mich immer noch so eine Art Mastermedium ist. Auf jeden Fall gibt es mir immer wieder Hauptimpulse für die Arbeit.“
Albrechts konzeptuelle Arbeit am Format der Lesung legt den Schluss nahe, dass er sich womöglich eher als Performance-Künstler verstehen mag, doch diese Vermutung weist er von sich. „Ich bin jemand, der Texte zusammenstellt, also definitiv eher Autor als Performer“, um dann ein wenig relativierend hinzuzufügen: „Aber wenn meine Texte von sich aus schon performen, kann ich manchmal auch nichts tun.“ Auch, wenn die Texte in den Augen des Autors aus sich heraus bereits performen, sperren sie sich gegen oberflächliche, schnelle Lektüre. Selbst die Homepage des Autors macht es einem Erstbesucher nicht leicht, sich in diesem „fotofixautomat“ zurechtzufinden. Wen will Albrecht in seine verrätselten Textwelten einladen, wie sieht er seinen idealen Leser? „Einen idealen Leser gibt es für mich gar nicht. Das geht über meine Vorstellungskraft hinaus. Ich will auch gar nicht, dass ich bestimmen kann, dass es nur bestimmte Leser für einen Text gibt. Mich freut es, wenn der Text so offen ist, so viele Lücken lässt, dass sich Leser anschließen können, die viele der Referenzen sehen, aber auch welche, die sich dem Moment hingeben, wenn sie gar nicht mehr alles verstehen können. Na, in dem Sinne wäre ein idealer Leser einer, der versteht, dass es einen Großteil der Realität gibt, den wir nie verstehen werden.“
Kein typischer Ruhrgebietsroman
Vor einiger Zeit verlegte der Autor, der an der Ruhr-Uni Bochum über „Abbrüche in Prosa und Hörspiel“ promoviert hat, seinen Lebensmittelpunkt nach Berlin. Den Kontakt ins Ruhrgebiet und zu der literarischen Szene hier hält er jedoch weiterhin: „Ich bekomme auf jeden Fall von einzelnen Leuten noch was mit, und auch, dass es neue Projekte gibt, z.B. die Zeitschrift Richtungsding. Ansonsten bin ich im Moment sogar wieder sehr viel hier, da ich mit meiner Theatergruppe copy & waste in den kommenden zwei Jahren am Ringlokschuppen in Mülheim einige Produktionen machen werde. Im Januar geht es los mit einem Abend über Stadtentwicklung und -verwicklung: ‚Einsatz hinter der V.ierten Wand‘ ist der Titel. Und beim FAVORITEN-Festival in Dortmund haben wir gerade mit ‚Cheap Throat‘ eine Performance gemacht, in der das Pornographische von City Marketing im Fokus stand.“
Die Gruppe copy & waste gibt es bereits seit 2007/08, „es fing an mit einer Theaterarbeit zum damals neuen Berliner Hauptbahnhof, in der Zwischenzeit gab es zahlreiche Arbeiten unter anderem zu Berliner Orten wie dem Kottbusser Tor oder dem Ernst-Reuter-Platz.“ Und dort findet sich auch die Anknüpfung zum Ringlokschuppen: im gemeinsamen Interesse an Fragen städtischen Zusammenlebens. Auch seine Prosapläne führen Albrecht wieder zurück ins Revier: „Ich schreibe an einem neuen Roman, der noch einmal die Ruhrstadt heraufbeschwören soll – allerdings weit weg von den Marketingsprüchen der Metropole Ruhr etc. Es geht eher um das Anarchische des Ruhrgebiets, das ich nach wie vor sehr liebe.“ Man darf sich sicher sein, dass hier kein typischer Ruhrgebietsroman in Arbeit ist …
Jörg Albrecht: „Beim Anblick des Bildes vom Wolf“ | Wallstein Verlag | 262 Seiten, 19,90 Euro
Lesung: Do 10.1. 18 Uhr | Universität Duisburg Gebäude LF, Lotharstraße 65
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