Frauen haben sich zu benehmen, sonst sind sie im öffentlichen Auge hysterisch und verrückt, haben ihre Tage oder sind einfach gar keine richtigen Frauen. Wie Frauen in der Gesellschaft zu sein haben, kann anhand des Umfeldes, der Klasse, des Alters und des Wohnortes variieren. Doch bei Missachtung der Standards erfolgt die Strafe durch Verachtung oder Gewalt meist sofort. Das ist ein Aspekt, der in Jovana Reisingers neuem Roman „Spitzenreiterinnen“ (Verbrecher Verlag) deutlich wird. Über vier Monate begleiten wir die Geschichten von neun Frauen, anhand derer Reisinger darstellt, was es heißt als Frau in dieser Gesellschaft zu leben.
Da ist zum Beispiel die Witwe Barbara, die noch immer die tadelnden Kommentare ihres toten Mannes zu ihren Entscheidungen hört, während sie versucht ihr Leben neu zu gestalten, das bisher auf das Versorgen ihres Mannes ausgerichtet war. Oder Lisa, die an der Last ihrer Unfruchtbarkeit fast zerbricht, insbesondere, da sie für diese von der Familie ihres Ex-Freundes verurteilt wird. Oder die beiden Frauen Laura und Verena, die zunächst eher eine Parodie zu sein scheinen und doch bei näherem Hinsehen, einen wesentlichen Aspekt der weiblichen Sozialisation ausmachen: Als Frau muss man Männern gefallen. Und sei es durch „Highly-Effective-Vaginal-Tightening“ für den „Jungfrauen-Effekt“. Was zunächst witzig und kurios klingt, sind jedoch reale Produkte, die Männerwünsche erfüllen sollen. Erwartungen an ihre Partnerinnen, die Männer auch ganz selbstverständlich formulieren dürfen.
Die ganze Wucht und Problematik von sexistischen Strukturen verdeutlichen sich schließlich in der Geschichte von Tina, die versucht der Spirale von häuslicher Gewalt zu entkommen. Sie ist kein Einzelfall und doch sind das Vorgehen und die Maßnahmen zu ihrem Schutz erschreckend schlecht. Sie lebt mit Angst, versucht sich ständig zu wappnen vor Übergriffen ihres Mannes. Dieses Wappnen findet sich im Kleinen bei jeder Protagonistin wieder: Übergriffe von Männern werden erwartet und viel Energie auf das Vermeiden gesetzt – das dann meist aber doch stattfindet durch Blicke, Sprüche, Hände auf Hintern…
Reisinger beschreibt in ihrem zweiten Roman die geballte Ladung von unterschiedlichen Formen von Sexismus und schafft nichtsdestotrotz viele unterhaltsame Momente sowie insgesamt eine kurzweilige Erzählung, die nicht unbedingt neue Erkenntnisse anführt, sie jedoch spielerisch verbindet. Die genutzten Klischees sind selten überzogen und nie urteilend – sie bringen vielmehr eine Leichtigkeit in den Roman. Am Ende ist klar: Für Frauen gelten andere Standards; sie müssen zum Überleben in der Gesellschaft funktionieren. Ihr Leben ist politisch, denn Wohnen, Alter, Arbeit, Ehe und Beziehungen sowie Reproduktion sind politisch. Ein Buch, das einerseits unterhält, andererseits wie ein Schlag in die Magengrube sein kann und definitiv nichts für unreflektierte Männer ist, die weibliche Wut nicht aushalten können.
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