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Sandra Da Vina
Foto: Anna-Lisa Konrad

Online-Lesezirkel im Ruhrgebiet

21. Dezember 2020

„Betreutes Lesen“ mit Sandra Da Vina – Literaturportrait 12/20

Über Bücher reden – wo macht man das noch? Im Freundeskreis vielleicht, sehr selten mal am Arbeitsplatz, noch seltener in den sozialen Medien – selbst wenn die Silbe „book“ Bestandteil eines Plattformnamens ist. Die aktuellen Netflix-Produktionen, die neue Staffel von „Babylon Berlin“ oder auch der „Tatort“ vom letzten Sonntag werden hier eher mal lebhaft diskutiert als ein Buch. Der Vorteil von Fernsehkrimi oder Streaming sind Sendeplätze oder Starttermine, die trotz aller durchbrochenen Linearität dafür sorgen, dass viele Menschen nahezu zeitgleich auf ein Medium zurückgreifen. Für ein Buch hingegen muss man sich verabreden, eine gemeinsame Lektüre auswählen und dann das Gespräch suchen.

Eine solche Verabredung schwebte Antje Deistler vor, die seit 2018 das Literaturbüro Ruhr leitet und die eine der treibenden Kräfte hinter dem Netzwerk literaturgebiet.ruhr ist. Ein Lesezirkel, der sich nicht wie im literarischen Salon des 19. Jahrhunderts an einem festen Ort trifft, sondern der virtuell das gesamte Ruhrgebiet überspannt und auch für Beiträge weit über dessen Grenzen hinaus zugänglich ist. Aber wie startet man ein solches Projekt heutzutage?

Hollywood im Revier?

„Normalerweise hast du erst die Community und rufst dann einen Lesezirkel ins Leben“, gibt Deistler Einblicke in ihre Überlegungen: „Emma Watson oder Reese Witherspoon sind zum Beispiel zwei Prominente, die sehr erfolgreich diesen Weg beschritten haben. Da gab es zwar auch gehässige Kommentare, weil sich Schauspielerinnen der Literatur widmen, aber gerade diese beiden Beispiele haben eine große Berechtigung. Watson studiert Literaturwissenschaften, Witherspoon studierte vor ihrer Schauspielkarriere Englische Literatur.“ Sowohl Watson (oursharedshelf) als auch Witherspoon (reesesbookclub) haben mit ihren Lesezirkeln eine große Reichweite.

Das Ruhrgebiet ist aber nicht gerade reich an Hollywoodstars und so suchte man nach einer prominenten Galionsfigur aus der Literaturszene. Fündig wurde man in Karosh Taha. Die kurdisch-deutsche Autorin, für ihr viel beachtetes Debüt „Beschreibung einer Krabbenwanderung“ mehrfach ausgezeichnet, sagte sofort zu: „Die Idee, mehr Beteiligung und Interaktion der Leserschaft im Ruhrgebiet anzuregen, fand ich super.“

Sozialisation im Netz

So startete der Lesezirkel im September 2019 zunächst auf der Website des literaturgebiet.ruhr. Karosh Taha wählte jeweils Bücher aus, und über die Website kamen Leserinnen und Leser mit ihr und miteinander ins Gespräch. Aber wie fühlt es sich an, schriftlich über Bücher zu diskutieren, ohne die „Gesprächspartner“ dabei sehen zu können? „Meine literarische Sozialisation fand hauptsächlich im Internet statt“, erläutert Karosh Taha, „deswegen ist es für mich nicht ungewohnt, mit Menschen unterschiedlichen Alters und aus verschiedenen Kontexten über Bücher zu schreiben. Das Diskutieren über Bücher in schriftlicher Form empfinde ich als besonders bereichernd, weil die Reflexion tiefergehend ist. Das geschriebene Wort ist nicht flüchtig wie das gesprochene, in der schriftlichen Diskussion haben alle die Möglichkeit sich zu beteiligen, sich auch auf frühere Beiträge zu beziehen, das bietet mehr Raum als die Spontanität eines Gesprächs, aber natürlich sehe ich auch die Nachteile in diesem Verfahren – die Leidenschaft eines Gesprächs, des Moments, in dem man über Literatur spricht und sich vielleicht sogar verrennt, geht verloren.“

Kritisches Lesungspublikum

Dieser Moment, dieses Live-Erlebnis sollte eigentlich jeweils mit einer Abschlussveranstaltung erzielt werden. „Unsere Idee dabei war, Lesungen zu bieten, die das Publikum viel stärker einbinden als hergebrachte Formate“, schildert Antje Deistler ihre Erwartungen: „Normalerweise kommen zu Lesungen in erster Linie Fans oder Leute, die auf das jeweilige Buch neugierig sind. Bei der Lesezirkel-Abschlussveranstaltung käme im Idealfall aber ein Publikum, das mit dem Buch bereits gut vertraut ist, das gezielte und durchaus auch kritische Fragen stellen kann. Bei Kinder- und Jugendlesungen kommt es häufig vor, dass Schriftsteller aus der Reserve gelockt werden. Das auf Erwachsene zu übertragen, wäre doch etwas für alle Seiten Bereicherndes.“

Jeden Monat ein neues Buch

Leider musste die erste Abschlusslesung der Reihe, die im März 2020 mit Nava Ebrahimi stattfand, ins digitale Corona-Exil ausweichen. Das Zoom-Gespräch zwischen Taha und Ebrahimi ist weiterhin auf Youtube abrufbar. Im Frühjahr 2020 erschien dann Karosh Tahas zweiter Roman „Im Bauch der Königin“ – und auch wenn Lesungen vor Publikum zu der Zeit nicht möglich waren, merkte sie, dass ihr die Zeit für die Betreuung des Lesezirkels fehlte. Das Literaturgebiet ging also auf die Suche nach einer neuen Galionsfigur. Die Essener Poetry-Slammerin und Autorin Sandra Da Vina hat angebissen und sich sofort ein äußerst ambitioniertes Ziel gesetzt: Jeden Monat ein neues Buch hat sie sich und den Mitlesenden vorgenommen. Wie lange sie selbst diese hohe Schlagzahl letztlich halten kann, wird sich zeigen – schließlich kann sie im Gegensatz zu den Mitlesenden nicht mal eben für einen Titel aussteigen.

Zu dem Gefühl, mit einem unbekannten Publikum zu diskutieren, meint sie: „Das ist auch für mich eine neue Erfahrung. Aber es macht tatsächlich sehr viel Spaß. Wir sind ja erst im dritten Monat und probieren gerade viel aus. Es war uns wichtig, dass alle, die Lust haben, die Möglichkeit bekommen, direkt mitzumachen, zu interagieren. Ob als Kommentar, private Nachricht, über eine Umfrage oder einfach per Like. Ich liebe es, über Bücher zu sprechen, und bin gespannt, was mit dem Format noch alles möglich ist.“

Die Bilder zum Gespräch

Mit einer Verlegung des Geschehens von der Website auf die Plattform Instagram ist zudem auch die Anforderung verknüpft, mit einer entsprechenden Bildsprache und möglichst treffenden Hashtags für Aufmerksamkeit zu sorgen. Auch wenn man so leider den Rahmen des literaturgebiet.ruhr verlassen musste und man möglicherweise auch Leute ausschließt, die sich bei instagram nicht zuhause fühlen, wirkt der Lesezirkel nun für das Auge lockerer und luftiger als beim ersten Anlauf. Und Ideen für die Zukunft hat Da Vina reichlich. Zum Beispiel wurden bislang die Buchtitel von ihr und dem Netzwerk-Team ausgesucht, „aber demnächst dürfen auch unsere Follower*innen mitbestimmen. Da bin ich sehr gespannt, welche Titel da ganz weit vorne sind. Was sind die Lieblingsbücher unserer Community? So bekomme auch ich vielleicht neue Buchtipps, lerne AutorInnen kennen, von denen ich noch nie gehört habe. Der Austausch ist ja das Wichtigste.“

Wie Antje Deistler hofft auch Sandra Da Vina darauf, in Zukunft, Abschlussgespräche mit den jeweiligen AutorInnen führen zu können, aber das ist nicht ihr Hauptziel: „auch Gespräche ÜBER Bücher und AutorInnen haben ihren Reiz. Jede/r liest ja anders, fühlt und erlebt einen Text anders. Da ist auch die Perspektive von anderen LeserInnen interessant.“ Zunächst jedoch hofft sie, „dass unsere Community weiter wächst. Dass in Zukunft mehr Leute mitlesen und mitdiskutieren. Jede/r, der/die gerne liest, kennt das: Wenn man ein Buch gelesen hat, das einem richtig gut gefällt, das einen bewegt und berührt - oder wenn man einen Titel gelesen hat, den man gar nicht mochte und man will herausfinden, ob es anderen auch so ging, dann ist es Gold wert, sich darüber mit Mitlesenden austauschen zu können. Das macht mir grundsätzlich Spaß, privat und beruflich.“

Betreutes Lesen – der Lesezirkel mit Sandra Da Vina | instagram.com/lesezirkel_literaturgebiet

Frank Schorneck

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