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Dortmunder Kult-Autor Tobi Katze präsentiert einen Trailer fürs Leben
Foto: Ulrich Schröder

Zwiegespräche mit dem Wäscheberg

14. Dezember 2015

Tobi Katze und sein antidepressiver neuer Roman – Literatur 12/15

Besprechungen spannender Literatur-Events, aktuelle Lesetipps und Portraits von im Ruhrgebiet literarisch aktiven Gruppen finden unsere LeserInnen unter neuem Blickwinkel. Diesmal werfen wir ein Schlaglicht auf die regionale Poetry-Slam-Kultur und das Netzwerk WortLautRuhr. Zudem geben wir einen Einblick ins Werk des in Duisburg lebenden deutsch-türkischen Schriftstellers Mevlüt Asar und präsentieren das frisch bei RoRoRo erschienene Buch des Dortmunder Kult-Autoren Tobi Katze „Morgen ist leider auch noch ein Tag“.

Seit seinem Erstling „Rock'n'Roll mit Buchstaben“ (Blaulicht-Verlag 2012) hat sich bei dem 1981 geborenen Literatur-Performer, der eigentlich auf den Namen Tobias Rauh hört, thematisch einiges gewandelt. In seinem zweiten Buch lässt er den Ich-Erzähler mal ernst, mal humoristisch von seiner Depression berichten und am vernieselten Freitagabend des 11.12. im vollen Buchladen des Straßenmagazins bodo das Zwerchfell von rund 90 Fans erzittern. Die Ursachen der Krankheit seien „so vielschichtig wie die für Krebs“, unterstreicht der Autor gegenüber trailer-ruhr: „Lebenswandel, Stress, Veranlagung, schlichtweg Pech“ – von seiner Depression hatte sich der Protagonist jedenfalls eigentlich mehr erwartet…

Sein Körper fühlt sich an wie Blei und die Seele leer, als sei sie „die ganze Nacht gerannt“, wenn er morgens oft verschwitzt und erschöpft auf dem Bett liegt: „Das Haus könnte brennen, ich hätte trotzdem Probleme damit, meinen Fluchtreflex anzuwerfen.“ Statt endlich aufzustehen und das Leben in die eigene Hand zu nehmen, führt Tobi Katzes alter ego imaginäre Diskussionen mit dem real-existierenden schmutzigen Wäscheberg neben seinem Bett, der ein bisschen wie das berühmte Känguruh von Marc-Uwe Kling klingt, wenn der Autor intoniert: „Magst du mich mal wegräumen? Ich komme mir ganz enorm übersehen vor.“  

Das Erzähler-Ich hat nach einem halbherzigen Germanistik-Studium sowie „Kunst als Selbstverwirklichung“ und sinnfreien Nebenjobs (alles „bis auf Panflöten in der Innenstadt spielen“) eine humoristische Fassade errichtet, um den eigenen Blick auf seine „lethargische Verneinung jedweder Lebensrealität“ zu verstellen. Doch der Protagonist ist es leid, sein „Dasein als Perpetuum mobile permanenter Frustration zu erleben“ – denn: „Seinen Traum zu leben ist ganz schön scheiße, wenn es ein schlechter Traum ist.“ Lautet bei Frank Goosens Ruhrgebietsklassiker die titelgebende Devise noch „Liegen lernen“ (Eichborn 2001), ist bei Tobi Katze das Überwinden von „Liegen-bleiben-Müssen“ angesagt: „Ich fühle mich scheiße, weil ich nicht aufstehen kann, und ich kann nicht aufstehen, weil ich mich deswegen scheiße fühle.“ Doch es ist nicht einfach, den Teufelskreis zu durchbrechen – und dies scheint ein aktuelles Kollektiv-Phänomen zu sein: „Entscheidungen sind das Schreckgespenst meiner Generation“, lautet der zeitgeistkritische Tenor.

Im Interview mit dem trailer-ruhr-Magazin bezeichnet der Autor die Ursache für die kollektive Entscheidungsschwäche als „Auswirkung des Optimierungsgedankens“: „Es muss in meiner Generation immer noch irgendwo etwas besseres, schöneres geben, wir wollen uns nicht festlegen, aus Angst, etwas zu verpassen.“ Und mehr noch: „Ich schätze, das ist ein Problem sozialen Drucks und der vielgescholtenen Leistungsgesellschaft.“ Der steigenden Tendenz diagnostizierter Depressionen möchte Tobias Rauh jedoch keine primär gesellschaftlichen Ursachen zuschreiben: „Depression ist letztlich wohl eine Mischung aus genetischer Disposition und äußeren Faktoren. Daraus zu folgern, dass uns die Gesellschaft krank macht, tut glaube ich der Krankheit Depression Unrecht, da es sie in ein Bild rückt, welches an 'mit der Gesellschaft nicht zurecht kommen' erinnert.“

Im mit „Endlich verrückt“ überschriebenen siebten der 28 Buchkapitel erhält der Protagonist dann die therapeutische Depressionsdiagnose: „Was für ein behinderter Scheiß“, lautet seine Reaktion. Die Entdeckung von Selbstsabotage-Mechanismen, die ihn zuvor am Gang zum Arzt gehindert hatten, empfindet er nunmehr als „krasse Behinderung, die das Leben massiv einschränkt“. Nur: „Einen speziellen Parkplatz bekommst du dafür trotzdem nicht.“ Das Publikum ist begeistert, und so mancher lacht trotz oder gerade wegen des wiedererkannten eigenen Leids: „Tobi Katze findet die Komik in der Schwermut oder die Schwermut in der Komik und lässt uns mal ganz anders lachen“, kommentiert Frank Goosen die neue selbstironische Heiterkeit bei Tobias Rauh.

Wie im Neue-Deutsche-Welle-Klassiker „Goldener Reiter“ von Joachim Witt(„neue Behandlungszentren bekämpfen die wirklichen Ursachen nie“), der zwei Jahrzehnte später den Titel eines Romans von Michael Weins tragen sollte (Rowohlt 2002), bekämpfen jedoch auch die „kleinen weißen Pillen“, die Katzes Roman-Ich zu schlucken beginnt, primär die Symptome: „Antidepressiva heilen eine Depression nicht“, bekennt der Autor im Interview, „ebenso wenig wie ein Gips einen Knochenbruch heilt.“ Aber: „Beide schaffen allerdings die Voraussetzungen für eine Heilung, nämlich eine Entlastung und eine ertragbare Baseline. Sie geben Raum zum Atmen, damit man überhaupt in der Lage ist, gesund zu werden.“

Das Romanthema jedenfalls ist nicht nur literarisch hochaktuell – hat es doch auch der ebenfalls aus dem Ruhrgebiet stammende Kabarettist Torsten Sträter damit zu einiger Popularität gebracht. Mit Tobias Rauh verbindet ihn eine fast zehnjährige Freundschaft, die sich „auch auf den Umgang mit gewissen Themen“ auswirke: „Ich will nicht sagen, dass Torsten wegen mir über seine Depression spricht und sie künstlerisch verarbeitet. Aber ich glaube schon, dass meine Arbeit da ein paar Barrieren abgebaut hat“, sagt der Autor von „Morgen ist leider auch noch ein Tag“ und freut sich für Torsten Sträter: „Ich find's großartig, dass er das tut, denn seine sehr verdiente Popularität schafft eine andere Ebene der Öffentlichkeit, die ich eben nicht erreichen kann.“ Doch da ist das letzte Wort bestimmt noch nicht gesprochen.      

Ulrich Schröder

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