Es müssen nicht immer Skandale sein, die die eigenen Kinder ans Licht bringen, wenn sie in der Vergangenheit ihrer Eltern wühlen. Manchmal kommen mit der Neugierde auch Schätze ans Licht, wie jetzt eine Suchaktion im Hause Troller beweist. Tochter Fenn stellte einen vergessenen Winkel der Pariser Wohnung des heute 97-jährigen Georg Stefan Troller auf den Kopf und fand ein Konvolut mit Fotografien, die der Vater in den Jahren unmittelbar nach Kriegsende in Paris aufgenommen hatte. Als gebürtiger Wiener musste Troller aufgrund seiner jüdischen Abstammung vor den Nazis nach Frankreich fliehen und gelangte mit viel Glück in die USA. Als Soldat der US-Army zurück nach Europa, kämpfte er in Frankreich und war zuständig für die Vernehmung der Gefangenen. Troller verstand es, den deutschen Offizieren so manches militärische Geheimnis zu entlocken. Schon damals beherrscht er die Finessen der Interview-Führungen. Bei einem Gefecht im Elsass erbeutete er eine Leica von einem Wehrmachtssoldaten, mit der er zu Beginn der 50er Jahre den Kosmos der Pariser Welt zu durchstreifen begann.
Jetzt erscheinen die Fotografien in dem elegant gestalteten Buch „Ein Traum von Paris“ bei Corso und das Forum für Fotografie in Köln wird die Originale im Mai erstmals dem deutschen Publikum präsentieren. Troller stellt den Bildern frühe Texte an die Seite, in denen er die Stadt seines Lebens als eine attraktive, aber keinesfalls schöne Frau in mittleren Jahren beschreibt. Ein Vergleich, der nicht das Ergebnis einer entgleisten Metapher darstellt, sondern ganz bewusst von ihm gewählt wurde. Troller verdankt seine Berühmtheit dem „Pariser Journal“ und der „Personenbeschreibung“, zwei legendären Fernsehformaten, in denen er die hohe Kunst des journalistischen Porträts zelebrierte, wie es in dieser Mischung aus Nonchalance und kritischer Analyse niemandem mehr gelang.
Von Äußerlichkeiten ließ er sich nicht blenden, so erhielten die Redaktionen des WDR und des ZDF keinesfalls nur Glamourbilder aus der Rue de Rivoli oder vom Place Vendome, sondern Berichte aus den Vorstädten und Hinterhöfen der Metropole. Paris war für ihn stets eine sinnliche Stadt, eine Stadt, in der Augen, Ohren und Gaumen etwas geboten wurde und die der Liebe und dem Begehren ihren Platz im Leben der Menschen zugestand. „Nimm mich in Besitz“ und „erkunde“ mich, diese Aufforderung nahm er wörtlich, und betrachtete den Stadtkörper gleich einem „Voyeur“ wie er sagt, gerade auch dort, wo er damals schon nicht ins kommerzialisierte Paris-Klischee passte.
Die Fotografien suchen weder die Idylle, wie sie Robert Doisneau sympathisch zur Kitsch-Ikone stilisierte, und sie stibitzen den Menschen auch nicht die magischen Momente ihres Lebens, wie es Henri Cartier-Bresson vermochte. Troller beobachtet, seine Bilder erzählen vom Glück, in dieser Stadt zu sein und von seiner Faszination für das Leben der kleinen Leute. Nichts wird geschönt, man sieht den Dreck der Hinterhäuser, die Armut der Kinder, aber das alles lebt. Die Bilder selbst sind beredt und unterhalten einen interessanten Dialog mit den glänzend geschriebenen Texten. In ihnen erklärt uns Troller mit seinem unsentimentalen aber liebevollen Blick vom Wesen dieser coolen Mutter aller Städte.
Im Mai wird Georg Stefan Troller im Forum für Fotografie die Ausstellung mit seinen Arbeiten eröffnen.
Georg Stefan Troller: Ein Traum von Paris | Reihe Corso im Verlagshaus Römerweg | 176 S. | 19 €
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