Im Kino kann man in ferne Länder verreisen, die so namenlos und fremd sind, dass man nicht mehr weiß, ob sie vielleicht eher dem Traum als der Realität entsprungen sind. Ingmar Bergman lässt in seinem Film „Das Schweigen“ seine beiden Protagonistinnen in einem Hotel stranden, das so fremd wie ein Planet im All wirkt. Wenn man sich dazu die unheimlichen Farben der plüschigen Welt von David Lynch vorstellt, befindet man sich ungefähr in der Kulisse von Peter Camerons neuem Roman „Was geschieht in der Nacht“. Ein junges Ehepaar aus New York reist mit dem Zug durch unendliche Schneelandschaften im Norden Europas, um in einer winterlichen Stadt zu landen. Hier, am Ende der Welt, öffnen sich die Türen des Borgarfjaroasysla Grand Imperial Hotels. Verwirrend wie der Name scheinen die Menschen zu sein, die in diesem alten Prachtbau leben.
Alle Versuche des Paares ein Kind zu adoptieren, scheiterten bisher, weil die junge Frau an Krebs erkrankt ist. Aber im Waisenhaus der Stadt wartet nun ein Baby auf sie. Es muss nur abgeholt werden. Das Taxi, das sie am nächsten Morgen zum Waisenhaus bringen soll, wählt jedoch einen anderen Weg und sie treffen auf dem Anwesen eines Heilers ein. Die Begegnung mit ihm verändert so manches. Im Hotel taucht derweil ein Geschäftsmann auf, von dem eine sexuelle Bedrohung ausgeht und wir lernen eine coole Pianistin kennen, die von Helen Mirren gespielt werden könnte. Beim Lesen dieses Romans, der eine dezente aber beständige Sogkraft entwickelt, hat man unablässig Filmbilder vor Augen. Die Handlung ist nicht vorstellbar ohne Camerons hingebungsvolle Beschreibung von Details und Atmosphäre, in die sie eingebettet ist. Trotzdem weiß man nie, was als nächstes geschieht in dieser Welt, in der die Zeit offenbar stillt steht, und dennoch fügt sich am Ende alles einer eigenen Logik.
In der Beziehung des Paars kriselt es, deshalb werden die Personen im Umfeld der beiden immer bedeutender. Cameron besitzt ein subtiles Empfinden für Dramaturgie, leise streut er Humor ein und zugleich lauert im Halbdunkel ahnungsvolles Unheil. Aber Peter Cameron verkauft seine exzellent erzählte Geschichte nicht an Effekte. Keine seiner Figuren bleibt Klischee, alle besitzen Charakter und in jeder ist das Wissen um die Tragik des menschlichen Schicksals eingeschrieben.
Peter Cameron: Was geschieht in der Nacht | Liebeskind | 272 S. | 24 €
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