Kinokalender
Mo Di Mi Do Fr Sa So
21 22 23 24 25 26 27
28 29 30 31 1 2 3

12.581 Beiträge zu
3.805 Filmen im Forum

Giorgio Chiesura: Bindeglied zwischen Pasolini und Levi
Foto: © Marsilio Editori

Ohnmacht der Bilder

29. Juni 2017

Die Entdeckung der bizarren Liebesgeschichte eines Fotografen – Textwelten 07/17

Die digitale Technik hat uns eine Flutwelle von Bildern beschert, aber die Frage der analogen Fotografie, was ein Foto über die Welt mitteilen kann, ist aktuell geblieben. Pier Paolo Pasoloni war einer der ersten und radikalsten Kritiker einer Konsumgesellschaft, die den Besitz von Waren und Sex verspricht und die Menschen dann mit Bildern über ihr Ausbleiben zu trösten versucht. Pasolinis Generation entstammte auch Giorgio Chiesura. Der Venezianer hatte sich 1943 als ehemaliger Soldat freiwillig den deutschen Besatzern gestellt, da er keine Waffe mehr in die Hand nehmen wollte. 19 Monate brachte er in den Lagern Osteuropas zu, bis er wieder in seine Heimat gelangte. Dort feierte man die Partisanen, sein Pazifismus taugte hingegen nicht als Akt heroischer Bewunderung. Bis 1968 war Chiesura als Staatsanwalt tätig und schrieb bemerkenswerte Gedichte, Tagebücher sowie den Roman „Hingabe“, der 1990 erschien. Monika Lustig übersetzte den Text mit großer Präzision für den Secession Verlag, der ihn im deutschen Sprachraum präsentiert, wo er noch auf seine eigentliche Entdeckung wartet.

Der Erzähler ist ein ehemaliger Auschwitz-Häftling, Mitglied des Sonderkommandos, das die Körper der Ermordeten in die Öfen zu schaffen hatte. 1945 zieht er sich auf das norditalienische Landgut seiner Familie zurück, deren Erbe ihm allein zur Verfügung steht. Wie der antike Marsyas, dem Apollon die Haut abgezogen hat, kann er andere Körper nicht mehr berühren. Eines Tages kommt eine Bäuerin auf das Gut, die ihm ihre Enkelin Antonia als Magd zum Verkauf aufdrängt. Das Mädchen fasziniert ihn und da er sie nicht berühren kann, beginnt der Erzähler Antonia zu fotografieren. Chiesura schildert den Versuch der Besitznahme durch das Bild. Der Mann fotografiert das Mädchen nackt in den Wäldern, auf dem Hof, im Haus, auf dem Tisch. Tausende von Fotografien entstehen, mit denen bald die Wände dicht bestückt sind. Die Sucht nach Bildern, wie sie heute mit dem Angebot des Netzes offenbar wird, findet sich detailliert beschrieben. Chiesuras Roman rutschte in der Öffentlichkeit ins Fach der erotischen Literatur, wo er aber nicht hingehört. Gerade in seinen zum Teil expliziten Beschreibungen spekuliert der Text nicht mit der sexuellen Erregung seiner Leser, sondern thematisiert das Misslingen einer Liebesbeziehung.

Der Fotografie steht nur die Oberfläche des Körpers zur Verfügung, aber was spielt sich darunter ab? Wie bekommt man das Denken und Fühlen zu Gesicht? Chiesuras Roman wird zur großartigen Parabel für das Scheitern der Bildmedien, und erzählt dabei doch leidenschaftlich vom Abenteuer der Hingabe, mit der die Fotografie die Schönheit des Körpers feiert. Als Antonia plötzlich verschwindet, zeigt sich, dass das Objekt der Betrachtung Entwicklungen vollzogen hat, die dem Fotografen beim Blick durch sein Objektiv verborgen geblieben sind. Konsequent zieht der Roman seinen Handlungsbogen bis ins Finale. Ein Text, der zu den interessantesten Entdeckungen der letzten Jahre gehört. Stellt er doch im Nachhinein das Bindeglied zwischen den Werken Pier Paolo Pasolinis und Primo Levis her. Und das, gerade weil er sich auf die Ambivalenz der Fotografie als eines Mediums der Dokumentation einlässt, das manchmal die Wahrheit eher verdeckt als dass es sie offenbaren würde.

Giorgio Chiesura: Hingabe | Aus dem Italienischen von Monika Lustig | Secession Verlag | 244 S. | 23,95 €

Thomas Linden

Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.

Neue Kinofilme

Venom: The Last Dance

Lesen Sie dazu auch:

Nachricht aus der Zukunft
„Deadline für den Journalismus?“ von Frank Überall – Literatur 10/24

Zurück zum Ursprung
„Indigene Menschen aus Nordamerika erzählen“ von Eldon Yellowhorn und Kathy Lowinger – Vorlesung 10/24

Eine Puppe auf Weltreise
„Post von Püppi – Eine Begegnung mit Franz Kafka“ von Bernadette Watts – Vorlesung 10/24

Risse in der Lüneburger Heide
„Von Norden rollt ein Donner“ von Markus Thielemann – Literatur 10/24

Förderung von Sprechfreude
„Das kleine Häwas“ von Saskia Niechzial, Patricia Pomnitz und Marielle Rusche – Vorlesung 10/24

Frauen gegen Frauen
Maria Pourchets Roman „Alle außer dir“ – Textwelten 10/24

Wie geht Geld?
„Alles Money, oder was? – Von Aktien, Bitcoins und Zinsen“ von Christine Bortenlänger und Franz-Josef Leven – Vorlesung 09/24

Zerstörung eines Paradieses
„Wie ein wilder Gott“ von Gianfranco Calligarich – Literatur 09/24

Lektüre für alle Tage
Lydia Davis‘ Geschichtensammlung „Unsere Fremden“ – Textwelten 09/24

Reise durchs Eismeer
„Auf der Suche nach der geheimnisvollen Riesenqualle“ von Chloe Savage – Vorlesung 09/24

Schluss mit normativen Körperbildern
„Groß“ von Vashti Harrison – Vorlesung 08/24

Weibliche Härte
„Ruths Geheimnis“ von Aroa Moreno Durán – Textwelten 08/24

Literatur.

Hier erscheint die Aufforderung!