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Navid Kermani
Foto: Bogenberger Autorenfotos

Staunen, nicht klagen

28. Februar 2022

Navid Kermani mit einem Roman voller Erkenntnis – Klartext 03/22

Wenn es jemals eine Krise der Religionen gegeben hat, dann erleben wir sie heute. Der Islam zerfleischt sich auf unzähligen Kriegsschauplätzen und die christlichen Kirchen stecken bis zum Hals in Missbrauchs-Skandalen. Wo sollte da noch Glaubwürdigkeit existieren? Navid Kermani besitzt ein Sensorium für die Stimmungen des Zeitgeistes und er ist nahe dran am gesellschaftlichen Geschehen, wie seine Romane und Reportagen immer wieder zeigen. Genau jetzt präsentiert er ein Buch über die Religionen, das sich so ganz anders ausnimmt als alles, was man derzeit zu diesem Thema lesen kann. In alter philosophischer Tradition entwickelt er es aus einem Dialog heraus, den er mit seiner 12-jährigen Tochter führt. Freilich vernehmen wir nur seine Stimme und obwohl es in einer klaren Sprache geschrieben ist, die sorgsam ohne Fremdworte auskommt, kann man es keineswegs schon als Jugendbuch bezeichnen. Vielleicht ist das aber auch ein kluger Schachzug des Verlags. Als Jostein Gaarder mit „Sofies Welt“ seinen Spaziergang durch die Geschichte der Philosophie unter dem Label eines Jugendbuchs präsentierte, kauften auch die Erwachsenen das Buch, weil sie sich einen leichten Einstieg in die schwierigen Gewässer der Gelehrsamkeit erhofften.

Auf wunderbare Weise gelehrsam ist auch „Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen“, weil der in Köln lebende Navid Kermani den Koran und die Bibel gut kennt, und im Judentum ist er auch bewandert. Hier geht es aber nicht um Gebote und penible Textauslegung, sondern um die Frage, wie die Religionen entstanden sind und warum das viel mit der Natur und unserem Alltagsleben zu tun hat. Religionen gibt es, weil Menschen der Unendlichkeit begegneten. Dort, wo die Worte versiegen, wir aber erleben, dass es noch mehr als das uns Bekannte gibt, besteht die Möglichkeit, Gott zu erfahren. „Wenn du dich Gott ohne Ziel hingibst“, dann hat dieser Moment etwas mit der Liebe zu tun, und die ist ganz irdisch. Im Zustand der Verliebtheit vergessen wir die Zeit. Ja, dann „erlöst uns Gott von der Zeit“, sagt Kermani. Und wer hätte dieses Mysterium nicht schon einmal erlebt? Kermanis Buch, das durchaus dunkle Passagen voller Verzweiflung enthält, ist so zugänglich, weil es Wissen und Erfahrung nicht in den Himmel hochrechnet, sondern mit vielen Beispielen auf den Boden der Realität holt. Ein Buch, das uns noch lange beschäftigen wird. Gut so.

Navid Kermani: Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen – Fragen nach Gott | Hanser Verlag | 240 S. | 22 €

Thomas Linden

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