„Wenn ich heute entscheiden könnte, ob ich lieber aussagen oder vergewaltigt werden würde, ich würde mich für die Vergewaltigung entscheiden.“ Mit diesem Satz resümierte Samantha Geimer 2013 die Vergewaltigung durch Roman Polanski und den jahrzehntelangen medialen Rummel um ihre Person. Ein Martyrium, da sie nach der Tat 1977 zu einem traumatisierten Opfer erklärt wurde. In ihrem neuen Buch „Vergewaltigung“ fragt sich die Kulturwissenschaftlerin Mithu M. Sanyal, warum wir uns eigentlich immer vorstellen, dass die betroffenen Frauen traumatisierte Opfer seien. Eine Bezeichnung, die Menschen als unwiderruflich beschädigt oder erkrankt disqualifiziert.
Nach der Silvesternacht in Köln wurden Blumen vor dem Hauptbahnhof für die attackierten Frauen niedergelegt. Ist jemand gestorben? Darf man sich fragen. Ja, die Betroffenen sind dem sozialen Tod anheimgegeben worden. Sobald jemand als „vergewaltigt“ gilt, wird sie oder er stigmatisiert. Joyce Carol Oates beschreibt diesen Mechanismus in ihrer Erzählung „Nackt“, die von einer Frau erzählt, die während des Joggens in einem Park von einer Horde Halbwüchsiger überfallen und entkleidet wird. Die Kinder verschwinden wieder und sie überlegt, ob sie sich Hilfe von Passanten eines nahen Parkplatzes holen soll. Was macht es schon, sich nackt zu zeigen? Dann wird ihr jedoch bewusst, dass von diesem Moment an die ganze Vorstadt denken wird, sie sei vergewaltigt worden. Ihre Kinder werden die Kinder einer Vergewaltigten sein, ihr Mann wird nur noch als der Ehemann dieser bemitleidenswerten Frau wahrgenommen werden.
Bei einer Vergewaltigung wird das Selbstbestimmungsrecht eines Menschen verletzt, ein schreckliches Verbrechen. Damit setzt aber nicht automatisch eine Traumatisierung ein. Entscheidend, ist der Umgang mit dem Ereignis. Eine Beobachtung, die der Psychoanalytiker Hans Keilson bei seiner Forschungen zum Schicksal von Shoah-Überlebenden traf. Ob jemand eine Traumatisierung erfuhr, hing damit zusammen, wie er das Erlebte verarbeiten konnte.
Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass Mithu M. Sanyal nicht verharmlost. Vielmehr zeigt sie in ihrer dicht geknüpften Recherche, welche absurden Hürden genommen werden mussten, bis dieses Verbrechen überhaupt erst in das Bewusstsein unserer Gesellschaften rücken konnte. Dass die Öffentlichkeit einer Frau jedoch nicht zutraut, ohne die obligate Traumatisierung aus der Sache herauszukommen, lässt Rückschlüsse auf ein Frauenbild zu, dass die Frau als Gegenstand betrachtet. Die scheinbar überholten Vorstellungen von Jungfernschaft zeigen hier noch Wirkung. Ehre wird offenbar noch mit dem Geschlecht identifiziert. So kann Vergewaltigung zum Schicksal werden, wobei man die Betroffenen symbolisch aufgibt, der Blick auf sie, verändert sich für alle Zeit. Es kann nie mehr so sein wie zuvor. Ein Satz, der auf das soziale Umfeld mindestens so sehr zutrifft, wie auf diejenigen, die Gewalt erfahren haben. Mithu M. Sanyal rückt mit ihrer souverän entwickelten Analyse endlich einen weißen Fleck unseres gesellschaftlichen Diskurses in den Blick.
Mithu M. Sanyal: „Vergewaltigung“ | Edition Nautilus | 240 S. | 16 €
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