Eine billige Taschenbuch-Ausgabe öffnet der jungen Deborah Feldman die Tür in eine andere Welt. Das Buch gehört ihrer Großmutter. Auf dem Cover: eine knapp gekleidete und geschminkte Tänzerin – Mata Hari, wie Feldman erst später erfährt. Eine fast skandalöse Entdeckung. Denn die Familie, in der sie aufwächst, gehört der jüdischen Glaubensgemeinschaft der Satmarer Chassiden an und lehnt eine weltliche Lebensweise ab. Stattdessen absolute Frömmigkeit. So lernt auch das junge Mädchen schnell strenge Vorschriften wie etwa die Kleidungsordnung. Körper und Haar müssen bedeckt sein.
Umso anstößiger erscheint ihr das Buch: „Meine Großmutter hat Geheimnisse. Sie ist eigentlich nicht die Frau, als die sie sich ausgibt“, blickt Deborah Feldman im rappelvollen Literaturhaus Dortmund auf ihre kindliche Erkenntnis zurück. Eine neue Welt tat sich Ihr auf – Dekadenz, Genuss, Weltlichkeit. „Das war eine ganz andere Realität. Als ich älter wurde, habe ich mich sehr nach einer solchen Welt gesehnt“, erinnert sich die heute 30-Jährige.
Mit 17 zwangsverheiratet
Um das subversive Potential von Literatur ging es auch in der Lesereihe „Ausgebootet. Macht & Subversion in der Literatur“. Für die letzte Ausgabe des Herbstprojekts des Literaturbüros Ruhr hatte man eine Autorin zu Gast, die weiß, wovon sie spricht: Denn mit ihrer Autobiographie „Unorthodox“ hat sie sich nicht nur freigeschrieben von ihrer Vergangenheit in der ultraorthodoxen Familie. „Unorthodox“ erreichte rasch eine Millionenauflage, in diesem Jahr erschien der Bestseller auch in Deutschland.
Darin schildert die Wahlberlinerin die abgeschottete Welt der ultraorthodoxen Religionsgemeinschaft: Radio, Fernseher, sogar die englische Sprache sind im Haus der Großeltern, wo sie aufwächst, verboten. Sie lernt jiddisch, ein paar Zentimeter zu kurze Röcke sind untersagt, genauso wie Bildung für Frauen. Sie werden stattdessen auf einem „Ehemarkt“ angeboten: „Man hat zwischen Frauen verhandelt und es ging dabei auch um viel Geld“, sagt Feldman. Mit 17 Jahren wird sie zwangsverheiratet, mit 19 Jahren bekommt sie einen Sohn. Irgendwann schreibt sie sich heimlich in der Uni ein und studiert Literatur. Dann entschließt sie sich, ihren Ehemann und die Satmarer zu verlassen.
Öffentliche Wirkung ihres Bestsellers
Im Literaturhaus las Feldman nicht nur aus ihrem Debütroman, sondern sprach auch über die Hintergründe ihres Textes, etwa das fanatische Weltbild der Chassiden: „Viele Menschen, die nach dem Holocaust noch an einen Gott glaubten haben, haben an einen zornigen Gott geglaubt“, erzählt die Schriftstellerin. Erneut aufkeimender Antisemitismus wird als Strafe für mangelnde Frömmigkeit ausgelegt: „Sie haben diese Ereignisse mit unserem Verhalten verbunden, so haben sie das erlebt und sich dabei viel zu wichtig genommen.“
Ihre wichtigsten, befreienden Erfahrungen macht sie schließlich mit der Literatur. Nicht nur in der Lektüre. Auch ihr Besteller hat eine öffentliche Wirkung: „Es hat es mir ermöglicht, dass ich das Sorgerecht für meinen Sohn erhalten habe.“ Heute lebt sie mit ihm in Berlin, in der anderen, weltlichen Welt, von der sie einst geträumt hatte.
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