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Auch Gott hat herumgemurkst

30. März 2017

Giorgio Agamben würdigt unsere Arbeitshemmung – Textwelten 04/17

Wir wissen, dass Gott die Welt in sechs Tagen erschaffen hat, aber was hat er vorher gemacht? Solch neugierige Nachforschungen schätzen Theologen nicht. Augustinus soll jedenfalls mit dem ausweichenden Hinweis geantwortet haben: „Gott schnitt Ruten, um diejenigen zu züchtigen, die unzulässige Fragen stellen.“ Luther muss sich wohl ähnlich geäußert haben, wie Giorgio Agamben in seinem aktuellen Buch „Die Erzählung und das Feuer“ versichert. Der Italiener zählt zu den maßgeblichen Intellektuellen der westlichen Welt und wie schon in seinem Band „Nacktheiten“, der die Entblößung in Kunst und Theater kritisch definierte, nimmt er auch diesmal sein Thema in zehn Essays aus wechselnden Perspektiven ins Visier. Den Ursprung des Erzählens verortet er im Mysterium der Schöpfung, dessen Verblassen mit dem Prozess des Erzählens einsetzte. Agamben weist auf die Analogie des Wortes „Geschichte“ hin, das sowohl die Ereignisse des Weltgeschehens als auch das literarische Erzählen bezeichnet. Aber schon hier zeigt sich der rote Faden seiner Textsammlung, in der immer wieder nach dem Geschehen geforscht wird, das sich vor dem göttlichen Schaffensprozess ereignet hat.

Warum müssen wir das wissen? Weil es die Antwort auf alle kreativen Prozesse enthält und Agamben auch dem scheinbar abgeschlossenen Kunstwerk eine andere Bedeutung beimisst. Der Italiener holt sich Rat bei Gilles Deleuze, der den Schöpfungsakt als „Widerstandsakt“ bezeichnete. Der Widerstand ist das, was uns von der Fertigstellung abhält. Während die Potenz darin besteht, dass wir kreativ sein könnten, gehört für den Italiener auch die Impotenz – also die Entscheidung nicht in Aktion zu treten – zum Schöpfungsakt. Bestsellerautor Ian McEwan erklärt die Qualität seiner Romane etwa mit dem Umstand, dass er „ausgezeichnet im Nicht-Schreiben“ sei. Das Gelingen hängt eben auch von dem noch ratlosen Gemurkse im Vorfeld ab, das auch Gott umgetrieben haben muss.

Gewöhnlich werten wir diesen organischen Teil des Werks ab, der das Denken und die Inspiration erkennen lässt. Schon die Romantiker waren von Fragmenten und offenen Formen fasziniert und brachten jene in uns arbeitende Psychodynamik der Produktion und eben ihre Blockaden ins Spiel. Für Agamben löst sich damit auch die Vorstellung vom Buch auf, das eben immer sein Vorher und Nachher enthalten sollte. Gottes Schöpfung war ja auch nicht nach der ersten arbeitsreichen Woche wirklich erledigt. Das Buch öffnet sich auf diese Weise dem Möglichen, wird virtuell und rückt näher an die digitale Welt heran, schon dadurch, dass es über Seiten funktioniert, eine Form, die der Bildschirm übernommen hat. Es ist ein köstliches Vergnügen Agamben bei seinen Überlegungen zum Mysterium des Erzählens und Schreibens zu folgen. Nicht alleine der tiefe Bildungsschatz, aus dem er immer wieder zu schöpfen weiß, wirkt inspirierend, auch die Vorstellung von dem, was einen Künstler und letztlich jeden kreativen Menschen ausmacht, verändert die Lektüre dieses Buches.

Giorgio Agamben: Die Erzählung und das Feuer | Deutsch von Andreas Hiepko | S. Fischer | 138 S. | 20 €

Thomas Linden

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