Dass ihr Heimatland sich nur unzureichend mit seinerVerwicklung mit dem Faschismus auseinandergesetzt hat, so lautete der Vorwurf vieler österreichischer Schriftsteller. ProminenteStimmen wie Thomas Bernhard oder Elfriede Jelinek wurden angesichts ihrer scharfen Kritik gar als „Nestbeschmutzer“ gebrandmarkt. Letztere verfasste mit ihrem Drama „Rechnitz“ eine scharfe Abrechnung über ein verübtes Massaker an jüdischen Zwangsarbeitern im Burgenland, das kurz vor dem Einmarsch der sowjetischen Truppen stattfand. Nun nimmt sich Eva Menasse das gleichnamige Dorf zum Vorbild und entwirft ein Gleichnis.
Das fiktionalisierte Rechnitz nennt sie „Dunkelblum“. Auch dort verdrängt die Gemeinde – bewusst oder teilbewusst – das Schreckgespenst des Holocaust und der begangenen Abscheulichkeiten nur zu gern, bis ein rätselhafter Besucher, ein am Stadtrand ausgegrabenes Skelett und das Verschwinden einer jungen Frau die Dunkelblumer mit ihrer Bigotterie konfrontiert.
Schon der Titel des Romans deutet auf eine übertünchte Vergangenheit hin, die hier nun unheilvolle Knospen ausbildet – auch, weil sich die Gegenwart in Erscheinung diverser Probleme unvermittelt aufdrängt. Doch so grunddüster die eigentliche Thematik auch sein mag, Eva Menasse lässt mittels ihrer dezentralisierten Erzählweise nicht nur wie durch ein Kaleidoskop auf die vielen Gestalten und tief in deren Seelen blicken, sie schildert die Geschehnisse auch mit reichlich Sarkasmus und lustvollem Detailreichtum.
Vordergründig wird oft heiter getratscht (übrigens in waschechtem Austriazismus), hinterrücks jedoch gemunkelt und gegeneinander intrigiert. Somit beschreibt Eva Menasse nicht nur schlecht verheilte Narben und vergangen geglaubte Sünden, sondern entwirft auch ein Geflecht politischer, vetternwirtschaftlicher Intrigen, das angesichts so manch jüngerer Farce brandaktuell wirkt. Umso erdrückender ist dabei das eigentliche große Schweigen um die Schuld, deren Fäulnis die Autorin gekonnt aus der Erde ins Gewissen ihrer Dunkelblumer kriechen lässt.
Die NS-Verbrechen sind bis heute nicht restlos aufgeklärt, zahllose Massengräber noch immer unentdeckt. Insofern erscheint der ins offene Ungewisse deutende Schlusssatz dieses spannenden, raffiniert konstruierten Romans mehr als folgerichtig: „Das ist nicht das Ende der Geschichte.“
Eva Menasse: Dunkelblum | Kiepenheuer & Witsch Verlag | 524 S. | 25 €
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