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Daniela Dröscher
Foto: Carolin Saage

Schlachtfeld Körper

03. Oktober 2022

„Lügen über meine Mutter“ von Daniela Dröscher – Klartext 10/22

„Eine dicke Frau ist automatisch eine faule Frau“ – ein wüstes Klischee, mit dem Daniela Dröscher ein für alle Mal aufräumt! In ihrem großartigen autofiktionalen Roman „Lügen über meine Mutter“ wagt die Autorin einen Rückblick in ihre eigene Kindheit. Wie der Titel schon nahelegt: Es geht nicht vorrangig um sie selbst, sondern eben um ihre Mutter – eine Frau, die sich tagein tagaus für die Familie abplagt, zurücksteckt und ihre eigenen Träume fahren lässt. Ihr Dank dafür sind die geringschätzigen Blicke und die bissigen Kommentare ihres Ehemannes über ihr Gewicht. Muss sie abnehmen? Er findet: Ja!

Das rheinländische Hunsrück in den 80ern: Ela, das sechsjährige Alter Ego Daniela Dröschers, ist ein aufgewecktes, fröhliches Mädchen, das die Mutter liebt und den Vater verehrt. Anfangs begreift sie nur vage, wie schief der Haussegen eigentlich hängt. Denn die Eltern streiten sich fast täglich. Der Vorwurf, der vonseiten des Vaters im Raum steht, ist das vermeintliche Übergewicht von Elas Mutter. Und das sei, meint er, der Grund für alles, was ihm versagt bleibt: die Beförderung, der soziale Aufstieg und die Anerkennung durch das soziale Umfeld im Dorf. Immer wieder verdonnert er seine Frau zu radikalen Diäten, die er streng überwacht. Was die Tochter aus ihren Kindesaugen nicht begreift – die Übergriffigkeit, die subtile Gewalt durch das kontinuierliche Gaslighting und die krasse Schikane des Vaters – reflektiert sie als Erwachsene in kurzen Kapiteln, die zwischen die Kindheitserzählung gestreut werden. Zugleich setzt sie sich auch kritisch mit ihrer eigenen Scham auseinander, denn durch die kontinuierliche Abwertung durch den Vater beginnt das Kind, die Mutter mit seinen Augen zu sehn.

Die elterliche Ehe ist ein einziges, langgestrecktes Drama. Und das Schlachtfeld, auf dem es ausgefochten wird, ist der Körper von Elas Mutter. Oft fragt man sich, wie diese resolute Frau die ständigen Demütigungen ertragen hat und vor allem: warum? Die Antwort darauf ist kompliziert und setzt sich aus vielen Faktoren zusammen, die Daniela Dröscher leichthändig auseinanderfaltet. Ihr Roman entfaltet sich vor der provinziellen Kulisse einer heilen Welt. Doch mit subtilem Humor enttarnt sie die toxischen Einwirkungen kleinbürgerlicher Ideale auf die Menschen. Dadurch wird „Lügen über meine Mutter“ nicht nur zur liebevollen Hommage an die starke titelgebende Frau, die sich mit inspirierendem Durchhaltevermögen und unglaublicher Aufopferungsbereitschaft nach und nach ihre Selbstbestimmung zurückerobert, sondern auch zur schonungslosen Gesellschaftsanalyse!

Daniela Dröscher: Lügen über meine Mutter | Kiepenheuer & Witsch Verlag | 448 S. | 24 €

Nathanael Brohammer

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