Kinokalender
Mo Di Mi Do Fr Sa So
20 21 22 23 24 25 26
27 28 29 30 31 1 2

12.626 Beiträge zu
3.848 Filmen im Forum

Die Lebensbilanz

29. November 2022

„Angabe der Person“ von Elfriede Jelinek – Klartext 12/22

Elfriede Jelinek, berüchtigt als „Nestbeschmutzerin“ wegen ihrer scharfen Kritik an ihrem Heimatland Österreich und dessen lückenhafter Erinnerungskultur, hat mit „Angabe der Person“ erneut eine furiose Abrechnung mit unserer Gesellschaft, ihrer Schuld und ihren Schulden vorgelegt.

Fluchtpunkt ihres neuen, sehr persönlichen Buchs, das sich wie viele ihrer letzten Texte nicht eindeutig in ein bestimmtes literarisches Gerne einordnen lässt, ist ein steuerliches Ermittlungsverfahren gegen sie selbst. Dieses wurde in der Realität mittlerweile längst eingestellt. Doch die aufwändige Auswertung selbst intimster E-Mails nahm Elfriede Jelinek zum Anlass, eine Rückschau auf ihr Leben zu unternehmen. Wem die Literaturnobelpreisträgerin bereits ein Begriff ist, kann sich ausmalen: Zimperlich geht sie nicht gerade vor! Mit unvergleichlicher Sprachgewalt, bei der jeder Satz den vorangegangenen unterläuft, wirft sie sich von ihrem privaten Finanzfall ausgehend in eine wilde, von Sarkasmus getränkte Reflexion über globale Kapitalströme.

Zugegebenermaßen: Es ist ein anspruchsvolles Unterfangen, den ungebändigten Assoziationsströmen zu folgen. Doch einmal drin, ist es quasi unmöglich, sich der rauschhaften Sprache zu entziehen. Die Autorin hangelt sich von Rundumschlägen auf die Behörden, die Politik und ihre öffentlichen Figuren über Kapitalismuskritik bis hin zur NS-Vergangenheit und den beschlagnahmten jüdischen Vermögen.

Die Auseinandersetzung mit den Schandtaten der Nazis und die Konfrontation der Täter ist ein Lebensprojekt Jelineks. Eine Obsession, die sich u.a. aus ihrer Biografie ableiten lässt, denn ihre Verwandtschaft väterlicherseits war jüdisch und wurde im Holocaust vertrieben oder ermordet. Mitte der 90er kulminierte ihre Anklage der NS-Verbrechen und ihrer Verleugner in dem (nicht zufällig) 666 Seiten langen Opus „Die Kinder der Toten“, in dem sie die Leichen aus Österreichs Keller ans Tageslicht zerrte.

Doch nicht nur mit der Gesellschaft zieht Elfriede Jelinek vor Gericht, sondern auch mit sich selbst. Sie zieht Bilanz und schreibt selbstironisch: „Mir glaubt man höchstens, daß es mich gibt. Sonst glaubt man mir nichts.“ Ob die Erzählstimme der Autorin sich hier nicht womöglich unrecht tut?

Elfriede Jelinek: Angabe der Person | Rowohlt Verlag | 192 S. | 24€.

Nathanael Brohammer

Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen?
Als unabhängiges und kostenloses Medium ohne paywall brauchen wir die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser. Wenn Sie unseren verantwortlichen Journalismus finanziell (einmalig oder monatlich) unterstützen möchten, klicken Sie bitte hier.

Neue Kinofilme

Springsteen: Deliver Me From Nowhere

Lesen Sie dazu auch:

Liebe rettet
Melissa Müller liest in der Bibliothek Moers

Kindheitserinnerungen
„Geheimnis“ von Monika Helfer und Linus Baumschlager – Vorlesung 10/25

Die Front zwischen Frauenschenkeln
„Der Sohn und das Schneeflöckchen“ von Vernesa Berbo – Literatur 10/25

Im Spiegel des Anderen
„Der Junge im Taxi“ von Sylvain Prudhomme – Textwelten 10/25

Von Ära zu Ära
Biographie einer Metal-Legende: „Sodom – Auf Kohle geboren“ – Literatur 10/25

Kutten, Kohle und Karlsquell
Lesung „Sodom – Auf Kohle geboren“ in Bochum – Literatur 10/25

Alpinismus im Bilderbuch
„Auf in die Berge!“ von Katja Seifert – Vorlesung 09/25

Keine Angst vor Gewittern
„Donnerfee und Blitzfee“ von Han Kang – Vorlesung 09/25

Roman eines Nachgeborenen
„Buch der Gesichter“ von Marko Dinić – Literatur 09/25

Süß und bitter ist das Erwachsenwerden
„Fliegender Wechsel“ von Barbara Trapido – Textwelten 09/25

Geteilte Sorgen
„Lupo, was bedrückt dich?“ von Catherine Rayner – Vorlesung 08/25

Augen auf Entdeckungsreise
„Jetzt geht’s los!“ von Philip Waechter – Vorlesung 08/25

Literatur.