 
		Was kann man tun, wenn die Eltern über die Vergangenheit nicht reden wollen? Dann bleibt einem nichts anderes übrig, als sie literarisch zu erahnen. So beginnt die Gegenwart mit den ihr gegebenen Möglichkeiten die Vergangenheit zu erzählen. Ulrike Draesner hat sich in ihren Romanen „Schwitters“ und „Sprünge vom Rande der Welt“ den Phänomenen der Flucht und der Vertreibung gewidmet. Nun gehört das literarische Feld den Schicksalen der Frauen. Kinga, die zentrale Protagonistin ihres neuen Romans „Die Verwandelten“, welche als Anwältin für Erbrecht arbeitet, ist ein sogenanntes Nebelkind, geboren um das Jahr 1960 herum, wie Ulrike Draesner selbst. Eine Generation, die aus den Nachkommen jener Kriegskinder besteht, denen die Traumatisierung ein besonders tiefgreifendes Schweigen abverlangte.
Das unerwartete Erbe einer Wohnung in Wroclaw, dem ehemaligen Breslau, konfrontiert Kinga mit der Herkunft ihrer Mutter. Die war die Tochter einer Köchin, die ihrem Dienstherren wie selbstverständlich zur Verfügung zu stehen hatte. Als sie schwanger wird, kommt die Herrin des Hauses auf die Idee, das Mädchen im Lebensborn, der rassistischen Zuchtstätte der Nationalsozialisten, unterzubringen. Der Roman faltet sich auf in die Stimmen von Müttern und Töchtern, wobei die polnische Verwandtschaft in Gegenwart und Vergangenheit ebenfalls zu Wort kommt. Ulrike Draesner ist eine souveräne Erzählerin, welche die Fäden ihres Stoffs stets im Blick behält.
Dieser Blick öffnet uns die Welt der Frauen, über deren Leben im Haushalt, in den Heimen und in den Ehen hinweg gesehen wurde. Missbrauch und Vergewaltigung lassen verstummen, aber Ulrike Draesner weicht diesen Themen nicht aus. Sie demonstriert, dass Gewalt nicht literarisch reinszeniert werden muss, indem sie eine Ahnung von der zerstörerische Resonanz gibt, die sie im Wesen der Frauen anrichtet. Der literarische Geniestreich dieses Romans besteht in Draesners Fähigkeit, in einem ironischen, fast freundlich zu nennenden Erzählton von Deutschlands dunkler Vergangenheit zu berichten. Das funktioniert, weil sie immer aus der dichten Gefühlswelt der Frauen heraus erzählt.
Ulrike Draesner: Die Verwandelten | Penguin Verlag | 600 Seiten | 26 €
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