Essen, den 13.2.: Bonnie Tyler suchte einen, David Bowie wollte selbst einer sein – zumindest für einen Tag. Aber was genau ist das eigentlich für ein Stoff, aus dem die Helden in Film gemacht sind? Wie werden sie inszeniert? In welcher Welt und Gesellschaft können sie überhaupt über sich hinaus wachsen und zu HeldInnen werden?
All diesen Fragen ist die CineScience-Reihe des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen in Kooperation mit dem Filmstudio Glückauf im letzten halben Jahr nachgegangen. Neben dem klassisch amerikanischen (Action)Helden (hier fehlt die weibliche Form bewusst), dem Wissenschaftler als Filmheld und den Sheroes der Filmgeschichte, schließt die Reihe mit einer Analyse zu AntiheldInnen. Verena Keysers und Nora Schecke vom KWI haben sich als Patinnen und Moderatorinnen des Abends Amerikanist Markus Wierschem und Filmwissenschaftler Alexander Schultz von der Universität Paderborn eingeladen.
Mit einer Fülle von Filmausschnitten und Detailwissen analysieren sie sich durch mehr als 50 Jahre Filmgeschichte. Dabei konzentrieren sie sich auf das US-amerikanische Kino und entwickeln mit dem Publikum gemeinsam die eine oder andere Hypothese dazu, was ein/e AntiheldIn ausmacht. Die ersten Antihelden entwickelten sich in der Spätphase des US-amerikanischen Film Noir Mitte der 1950er Jahre. Das Genre entstand unter dem Eindruck des Zweiten Weltkriegs. die Welt wurde stets düster und zynisch gezeichnet. Diesem Pessimismus stand nur ein wenn auch gebrochener Held gegenüber.
Wierchem und Schultz erklären, wie sich in der Spätphase des Genres die Figur des Helden zu wandeln beginnt. Exemplarische Ausschnitte aus Robert Aldrichs „Rattennest“ („Kiss me deadly“) stellen darin den Privatdetektiv Mike Hammer als einen „Knight in dirty armor“ – als einen Ritter in schmutziger Rüstung – vor. Statt auf dem weißen Ross kommt er mit dem Sportwagen um die Ecke und fährt die „Jungfrau in Nöten“ fast platt, bevor er sie vorläufig rettet. Anders als die klassischen Helden bringt er kein Opfer und dient auch keinem höheren Zweck, sondern ist in erster Linie sich selbst und dem Geld verpflichtet. Seine Methoden als Privatdetektiv folgen der Effizienz, nicht der Moral. Einen guten Kern trägt er trotzdem noch mit sich herum.
Mit weiteren Ausschnitten belegen die beiden Filmexperten, dass das Western-Genre, eng verknüpft mit dem amerikanischen Gründungs- und Heldenmythos, einen ähnlichen Verlauf nahm. Ab Mitte der 1960er Jahre findet eine Verschiebung vom klassischen zum Spät- oder Italo-Western statt. Die Filme werden dreckiger, expliziter in ihrer Gewaltdarstellung. Wierschem und Schultz erläutern das anschaulich anhand von Sergio Leones „The Good, the Bad and the Ugly“ (1966). Auch hier folgt das Publikum dem Outlaw Clint Eastwood bereitwillig als einem der ersten Antihelden des Genres.
Verglichen mit dem Film Noir ist die Geschichte hier in ein anderes Setting eingebettet, wie Wierschem und Schultz erklären. Ersterem liegt ein korrumpiertes, insgesamt aber für gut befundenes System zugrunde. Der Western ist in Zeit und Ort hingegen da angesiedelt, wo Zivilisation, Recht und Gesetz erst noch durchzusetzen sind – meist mit brachialer Gewalt. Neben dieser Dimension innerhalb des Films ist auch der historische Kontext der Entstehungszeit des Films von Bedeutung. Unter dem Eindruck von Korea- und Vietnamkrieg änderte sich der Blick auf den klassischen Helden-Mythos und das Selbstverständnis des Gesellschaft. Die USA, ehemals Retter im Zweiten Weltkrieg, wurden zunehmend als Aggressor wahrgenommen, da Kriegsführung gegen die Zivilbevölkerung wenig heldenhaft wirkte.
Antihelden bildeten sich demnach heraus, nachdem beide Genres narrativ in eine Sackgasse gekommen waren und Identität der Gesellschaft in eine Krise geriet. Vor dieser Feststellung definieren Wierchem und Schultz den Antihelden in einem Fazit als Projektions- und Identifikationsfigur für eine Übergangszeit, in der das Vertrauen in bis dato unantastbare Institutionen brüchig wurde.
Während die epischen Leone-Szenen fast andächtig auf der Leinwand betrachtet werden, sorgen Ausschnitte aus dem dritten Teil der Selbstjustiz-Reihe „Ein Mann sieht rot“ („Death Wish“) für den einen oder anderen Lacher. Michael Winners Film schildert eine korrumpierte, von Drogenbanden terrorisierte Gesellschaft. Dem Antihelden, gespielt von Charles Bronson, erlaubt die hilflose Polizei die Anwendung sämtlicher Mittel, um die Ordnung in der Stadt wiederherzustellen. Bronson folgt dabei zwar einer inneren Moral, indem er nur Kriminelle tötet, fungiert allerdings als Richter und Henker in Personalunion. Das Beispiel zeigt exemplarisch, wie sich der Antiheld Mitte der 1980er Jahre auch im Action-Genre als Gegenentwurf zum Helden etablierte.
Diese mangelnde Gewaltenteilung wird 2012 in „Dredd“ zur Grundlage eines faschistoiden Polizeistaates, der Stabilität und Zivilisation verheißt. Statt die Ordnung wiederherzustellen, müssen die Helden in „Dredd“ das System unterlaufen. Erstmals kommt in diesem Filmausschnitt auch eine Antiheldin vor, die sich durch ihre Entscheidungen Menschlichkeit bewahrt. Eine Fähigkeit, die der Titel gebende Dredd zwar noch in sich spürt, aber als erfolgreiches Glied innerhalb der Ordnung nicht mehr abrufen kann.
Zu guter Letzt präsentieren die Experten eine Antiheldin in der Hauptrolle. In John Maddens Polit-Thriller „Die Erfindung der Wahrheit“ von 2016 gibt Jessica Chastain eine Lobbyistin, die auf die Seite der Anti-Waffenlobby wechselt. Sie leitet die Pro-Kampagne für einen Gesetzesentscheid, der die Waffengesetze verschärfen soll. Um dieses Ziel zu erreichen, geht sie fast so skrupellos vor wie die Gegenseite, auch wenn am Ende „das Gute“ siegt.
Die Diskussionen zwischen den Ausschnitten und am Ende verdeutlichen, wie schwierig eine Definition von HeldIn oder AntiheldIn ist. HeldInnen lassen sich nicht immer trennscharf von AntiheldInnen unterscheiden. Ein gemeinsamer Nenner scheint zu sein, dass letztere ambivalent sind, oft widersprüchlicher agieren und den Bogen innerhalb des Systems überspannen dürfen oder dieses sogar insgesamt in Frage stellen. Ob ein Antiheld zwangsläufig ein Sympathieträger sein muss, kann an diesem Abend nicht geklärt werden.
Das erfolgreiche Cine-Science-Konzept hat aber mit jeder Veranstaltung bewiesen, wie aufschlussreich es ist, Filme unter einem bestimmten Fokus zu untersuchen und genau hinzusehen. Es ist schön zu sehen, wie viele Menschen sich dafür begeistern können, einen Abend im Kino zu verbringen, um gemeinsam Filmsequenzen zu anschauen und miteinander zu diskutieren. Für eine Fortsetzung der Reihe wären mehr Beispiele aus dem europäischen, lateinamerikanischen oder asiatischen Kino wünschenswert, um die westliche Sehgewohnheiten herauszufordern und das Publikum in Kontakt mit anderen Filmästhetiken zu bringen.
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