Kinokalender
Mo Di Mi Do Fr Sa So
6 7 8 9 10 11 12
13 14 15 16 17 18 19

12.560 Beiträge zu
3.788 Filmen im Forum

Foto: Presse

Persönliche Dokumentation

28. November 2013

„Meine keine Familie“ im Essener Filmstudio – Foyer 12/13

Essen, 23.10. – Die Kommune im Friedrichshof war ein gesellschaftliches Experiment: Gelebt wurde freie Sexualität, Gemeinschaftseigentum und eine totale Absage an die kleinbürgerliche Familie. In dieses Setting wurde Filmemacher Paul-Julien Robert 1979 geboren. In seinem Dokumentarfilm „Meine keine Familie“ ergründet er den abgeschlossenen Mikrokosmos der Kommune und die Auswirkungen dieses radikalen Lebensentwurfs auf die ehemaligen Bewohner bis heute. Der Film ist sehr persönlich aus seiner Sicht erzählt. Im Filmgespräch im Essener Filmstudio wurde mit großer Ernsthaftigkeit diskutiert, wie es zu dem Scheitern des Projekts kam und wie sich die despotische Machtausübung des charismatischen Künstlers Otto Mühl auf die rund 500 Mitglieder im Laufe der Jahre entwickelte. Das Alltagsleben auf dem Friedrichshof wurde exzessiv dokumentiert. Archiv-Aufnahmen aus tausenden Stunden von Video-Material aus der Zeit der Kommune bilden den filmischen Hintergrund, zu dem Robert 20 Jahre später die Protagonisten befragt und Stellung beziehen lässt.

Paul-Julien Robert war es wichtig, zu Beginn seines Films den Zeitgeist einzufangen aus dem heraus sich die Kommune bildete, und er bestätigt im Gespräch sein großes Verständnis dafür, warum seine Mutter und andere dort mitgemacht haben. Er zitiert aus Manifesten von Otto Mühl, um das Konzept und den Traum von einem freien Leben im Kollektiv genau zu verstehen. Im Laufe der Jahre entwickelt sich das Projekt allerdings zu einem Albtraum. Mühl inszeniert die Kommune als allumfassendes Kunstwerk, in dem Menschen nach Roberts Ansicht zu Kunstobjekten degradiert wurden. Zu guter Letzt wird Otto Mühl wegen sexueller Nötigung Minderjähriger verhaftet und das Projekt Friedrichshof findet 1991 ein Ende; die ehemaligen Mitglieder verstreuen sich auf der ganzen Welt. Kaum zu ertragen sind Filmaufnahmen, in denen Mühl wie ein durchgeknallter Tyrann ein Kind zum Singen zwingt. Hunderte Teilnehmer johlen bei dieser Gruppensitzung, die so oder ähnlich Alltag auf dem Friedrichshof war. Täglich hieß es „Antanzen zur Persönlichkeitsbeurteilung“, wie ein Freund Roberts erzählt. Mühl kommentierte und bewertete alles und jeden und erfand ein perfides Netz von Hierarchien und willkürlichen Bestrafungen. Angetreten unter dem Motto eines freien Lebens für alle, wird die Kommune zu einer Diktatur mit faschistoiden Zügen, in der jede Form von Willensäußerung sanktioniert wird. Der Filmemacher konfrontiert seine Mutter, die ihn zeitweise allein in der Gruppe zurückließ, mit solchen Aufnahmen. Er eruiert, was Familie für ihn bedeuten könnte und was Verantwortung eines jeden einzelnen heißt. „Der Film ist keine Therapie“, stellt Robert klar. Er konstatiert, dass der Mikrokosmos der Kommune brutale Mechanismen im zwischenmenschlichen Miteinander sichtbar gemacht habe, sich diese Prozesse aber auch in vielen anderen Lebenszusammenhängen finden ließen. Sein Mittel der Wahl ist genaues Hinschauen, „denn ich wollte auch für mich verstehen, wie das funktioniert.“

BETTY SCHIEL

Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.

Neue Kinofilme

Planet der Affen: New Kingdom

Lesen Sie dazu auch:

Held wider Willen
Abschluss der CineScience-Reihe „Helden im Film“ zum Thema Antihelden am 13.2. im Filmstudio – Foyer 02/18

Von Halsbandsittichen und Wasserratten
Stranger Than Fiction in der Filmpalette – Foyer 01/16

Kuppelei 2.0
Lia Jaspers zeigte im Filmstudio Glückauf ihre Dokumentation „Match Me!“ – Foyer 01/16

Alle gegen Sharon Stones Schamhaar
„Scandalize me!” am 19.1. im Filmstudio Glückauf – Foyer 01/16

Nachdenken über Jugendkriminalität
„Das Ende der Geduld" am 21.1. im Filmstudio Glückauf in Essen

Der Homo sapiens auf dem Baum
„La Sombra del Sol“ im Filmstudio Glückauf Essen – Foyer 06/14

90 Jahre Kino und mehr
Essener Filmstudio Glückauf feierte 90jähriges Bestehen – Kino.Ruhr 03/14

Musik statt Bürokratie
"Can’t Be Silent" im Filmstudio Essen – Foyer 09/13

Buddhismus im Kino
"Auf der Suche nach dem alten Tibet!" im Filmstudio Essen – Foyer 07/13

Intimität gegen das Vergessen
"Vergiss mein nicht" im Filmstudio Essen - Foyer 03/13

Wissenschaft und Kino
"CineScience im Filmstudio Essen - Foyer 10/12

The European Dream
"Der europäische Traum und seine Grenzen" im Filmstudio Essen - Foyer 09/12

Foyer.

Hier erscheint die Aufforderung!