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Jens Plag
Foto: Studio Monbijou

„Psychische Erkrankungen haben nichts mit Zusammenreißen zu tun“

26. März 2024

Teil 2: Interview – Psychologe Jens Plag über Angststörungen

trailer: Herr Plag, Angst ist nicht gleich Angst. Welche Formen von Angst kennt die Psychologie?

Jens Plag: Grundsätzlich lassen sich erst einmal Angst und Furcht unterscheiden: Furcht ist eine starke Reaktion auf einen bestimmten Trigger – zum Beispiel eine Spinne, Höhe, ein Gewitter. Angst hingegen ist aus psychologischer Sicht eher ein chronischer Zustand der Alarmiertheit, der zwar mit der eigenen psychosozialen Situation zu- und abnehmen kann, aber dabei nicht direkt abhängig von bestimmten situativen oder gegenständlichen Auslösern ist.

Ohne Angst würden wir wahrscheinlich gar nicht dieses Gespräch führen können“

Furcht und Angst sind erst einmal normale Gefühle, die wir alle erleben?

Ja, evolutionär ist die Existenz dieser Zustände auch sehr nachvollziehbar. Ohne Angst würden wir wahrscheinlich gar nicht dieses Gespräch führen können, weil schon längst einer von uns auf der Autobahn überfahren worden wäre. Angst hilft uns, Gefahren gut einschätzen zu können und adäquat auf sie zu reagieren. Gerade auch die angstassoziierten körperlichen Reaktionen wie beispielsweise der Anstieg der Herzfrequenz, des Blutdrucks oder der Muskelaktivität helfen uns dabei, im Rahmen des „fight or flight“-Mechanismus unser Leben zu schützen.

Wann werden Ängste zum Problem?

Gerade ab dem Moment, in dem ich mich von der Angst beeinträchtigt fühle. Angst wird normalerweise von etwas ausgelöst, das auch dazu geeignet ist, Angst zu machen, weil es mich sozial oder vital bedroht. Wenn Angstreaktionen vorkommen, ohne, dass es einen solchen Anlass gibt und dadurch starke psychische oder soziale Belastungen entstehen, die einen davon abhalten, bestimmten Aufgaben nachzugehen, dann sprechen wir von einer psychosozialen Beeinträchtigung. Wenn die eigene Angst häufig in einem disproportionalen Verhältnis zu ihrem Trigger steht oder es teilweise gar keinen Trigger gibt und zusätzlich daraus eine Einschränkung der eigenen Lebensführung resultiert, ist es empfehlenswert, sich therapeutische Hilfe zu suchen.

Wie verbreitet sind solche Erfahrungen?

Gut untersucht ist dies am Beispiel der Panikattacke: Dabei handelt es sich um ein schlagartig auftretendes massives Angstgefühl mit körperlichen Symptomen wie beispielsweise Herzrasen, Schwitzen, Schwindel, Harn- und Stuhldrang. Diese Erfahrung ist erstmal recht verbreitet: Studien weisen darauf hin, dass jeder dritte Mensch in Deutschland mindestens einmal im Leben eine Panikattacke erlebt. Meist gibt es dafür jedoch einen nachvollziehbaren Auslöser, zum Beispiel dass man etwas zu nah am Rand des Grand Canyon stand. Eine einzige Panikattacke ist jedoch noch kein Hinweis auf eine psychische Störung, weil ein einmaliges Erleben wahrscheinlich noch zu keinen großen Einschränkungen führt. Erst beim wiederholten Erleben und einer daraus resultierenden Belastung und Beeinträchtigung sprechen wir von einer Panikstörung.

Die Krise verstärkt die Symptomatik von Betroffenen“

Wie wirken sich gesellschaftliche Krisen aus?

Wir haben den Effektdieser Krisen sowohl im Kontext der Pandemie als auch in kleinerem Rahmen im Kontext des Ukrainekriegs untersucht. Eigentlich wäre dabei in beiden Krisensituationen zu erwarten, dass solche noch nie dagewesenen Umstände als großer Stressor auftreten und somit Ängste im Allgemeinen zunehmen. Das konnten wir jedoch nicht beobachten: Die Häufigkeit von Angststörungen ist während der Pandemie scheinbar nicht gestiegen. Was wir jedoch beobachten konnten, ist, dass die Menschen, die ohnehin schon unter einer Angststörung litten, durch die Pandemie stärker betroffen waren. Dieses Ergebnis deckt sich auch mit den Ergebnissen anderer, vergleichbarer Studien. Die Krise verstärkt also die Symptomatik von Betroffenen und führt dazu, dass sie stärker davon in ihrem Alltag beeinträchtigt sind. Außerdem sehen wir, dass die Themen der Pandemie bei erkrankten Menschen teilweise zuvor bestehende Themen ersetzt haben. Wir sehen also, dass Menschen, die vorher zum Beispiel Angst hatten, ihren Job zu verlieren oder von ihrem Partner verlassen zu werden, dann stattdessen Infektionsängste oder Kriegsängste entwickeln.

Was führt zur Ausbildung einer Angststörung?

Aktuell geht man bei der Entwicklung von Angsterkrankungen, wie auch bei anderen psychischen Erkrankungen wie Depressionen, von einem sogenannten Empfindlichkeits-Stress-Modell aus. Das bedeutet, dass es bestimmte Komponenten gibt, die empfindlich für die Ausbildung einer Angstproblematik machen. Wenn dann bei Menschen mit bestehender Empfindlichkeit Stress dazu kommt – zum Beispiel in Form des Verlusts eines Angehörigen oder einer starken Arbeitsbelastung – kann schnell eine inadäquate Angstreaktion ausgelöst werden, zum Beispiel in Form von sozialen Ängsten, Sorgen oder auch Panikattacken. Wenn diese Empfindlichkeit einmal getriggert ist und es zur Symptomentwicklung gekommen ist, schließen sich häufig Konditionierungsprozesse an. Das bedeutet, dass ähnliche Situationen immer wieder eine ähnliche Reaktion auslösen. Wir sehen das zum Beispiel bei der sogenannten Agoraphobie, bei der die Angst vor Situationen besteht, in denen Hilfe nicht zugänglich ist oder man sich der Situation nicht schnell entziehen kann. Dabei kann es dann zum Beispiel sein, dass Betroffene zum ersten Mal eine Panikattacke in der U-Bahn erleben, weil sie an dem Tag einfach besonders gestresst waren. Daraufhin ist es möglich, dass sich diese Panikattacke an die U-Bahn koppelt und beim nächsten Mal schon die U-Bahn selbst die Panikattacke auslöst – ohne dass der ursprüngliche Stress noch besteht. Bei Patientinnen und Patienten führt das dann dazu, dass sie künftig die U-Bahn und auch viele andere, vergleichbare Situationen wie Fahrstühle, Menschenmengen und Kaufhäuser meiden. Dann kann es sogar sein, dass der eigene Aktionsradius auf den heimatlichen Küchenstuhl zusammenschrumpft, weil die Außenwelt als eine so große Gefahrenquelle wahrgenommen wird.

Wir sehen aktuell eine Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen“

Welche Einflüsse tragen zu einer Grundempfindlichkeit bei?

Die Faktoren, die für eine solche Entwicklung empfindlich machen können, sind ganz verschiedener Art. Der neurobiologische Einfluss von Botenstoffen, die bei der Stress- und Emotionsregulation beteiligt sind, ist zum Beispiel sehr gut erforscht. Wir wissen, dass Menschen mit Angststörungen Veränderungen in den Konzentrationen und im Abbau von beispielsweise Serotonin oder auch γ-Aminobuttersäure aufweisen. Dadurch wird das Angstzentrum im Gehirn leichter ansprechbar. Aber auch psychologische Faktoren spielen eine Rolle: Wenn ich beispielsweise sehr viele oder sehr häufig Angstsignaturen à la „Sei vorsichtig!“ von meinen Eltern mitbekomme, dann übernehme ich das im Kindesalter meist sehr unkritisch in mein eigenes Bewertungs- und Verhaltensreportoire. Solche emotional besetzten Lerninhalte sitzen meist sehr tief und machen empfindlich für ein schnelles Angstansprechen. Es handelt sich im Endeffekt also um eine Synthese aus biologischen, psychologischen und auch sogenannten Temperamentseinflüssen beziehungsweise Persönlichkeitsstilen.

Ist übersteigerte Angst ein neues Problem?

Nein, Angstphänomene wurden zum Beispiel in Form der „Angstneurose“ bereits Anfang des letzten Jahrhunderts durch Sigmund Freud beschrieben. Und das ergibt Sinn, denn auch entsprechende Stressoren hat es zeitadaptiert schon immer gegeben, wenn auch früher noch andere als heute. Es scheint sich also eher um ein überdauerndes Problem zu handeln, was aber erst jetzt immer weiter als solches erkannt wird. Ich würde sagen, dass wir aktuell eine positive Entwicklung der Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen sehen, die ich sehr begrüße, da sie dazu führt, dass sich Menschen schneller in Behandlung begeben.

Zwei große Therapiemöglichkeiten“ 

Welche Therapiemöglichkeiten gibt es, sobald man sich Hilfe gesucht hat?

Bei Angsterkrankungen gibt es zwei große Therapiemöglichkeiten: Die eine ist die Psychotherapie, das andere die medikamentöse Behandlung. Bei einer leichten bis mittelschweren Ausprägung empfehlen wir normalerweise eine sogenannte kognitive Verhaltenstherapien als alleiniges Vorgehen. Von den vier von den Krankenkassen zugelassenen Therapieformen liegen für sie die meisten Wirksamkeitsnachweise bei Angststörungen vor. Bei einer Verhaltenstherapie geht es als erstes darum, die Patienten über die Krankheit aufzuklären – es wird ihnen also zum Beispiel auch das Empfindlichkeits-Stress-Modell erklärt. Im zweiten Schritt wird an der Bewertung von Angstreaktionen gearbeitet, damit die Patienten nicht immer in „Angst vor der Angst“ leben. Ein ganz zentraler Baustein ist letztendlich die Expositionstherapie, bei der zum Beispiel im Fall einer phobischen Erkrankung zunächst mit Unterstützung des Therapeuten oder der Therapeuten immer wieder die angsteinflößende Situation aufgesucht wird. Dort lässt man die Angst dann ganz kontrolliert ansteigen bis die Patientin oder der Patient das Erleben hat, dass die Angst irgendwann von selbst wieder abfällt. Während das auf die meisten Betroffenen zunächst kontraintuitiv wirkt, weil diese bereits sehr ausgebildete Vermeidungsstrategien haben, ist es nämlich allein schon evolutionär gesehen notwendigerweise so, dass der Zustand der Angst nicht ewig aufrechterhalten werden kann. Mit Unterstützung der Therapeuten werden Patienten dann also hin zu dieser korrigierenden Erfahrung geleitet. Wenn man dies häufig wiederholt, verschiebt sich der Punkt, an dem die Angst abflacht, immer weiter nach vorne, bis im Idealfall gar keine Angst mehr ausgelöst wird. Bei den meisten Patienten trägt diese Therapieform daher schon zu einer deutlichen Verbesserung oder sogar einem Verschwinden der Angst bei. Bei schwerer Ausprägung, aber auch, wenn man beispielsweise aufgrund der Infrastruktur keinen Zugang zu einem Therapieplatz hat, gibt es auch medikamentöse Optionen. Bei einer solchen Pharmakotherapie wendet man Medikamente an, die dazu führen, dass der Serotoninspiegel im Gehirn angehoben wird. Das hat zur Folge, dass das Angstnetzwerk, das für die Wahrnehmung von Angst aber auch für die körperlichen Symptome von Angst zuständig ist, weniger aktivierungsfähig wird. Auch hiermit wird die Angstreaktion also letztlich reduziert. Besonders bei schweren Angsterkrankungen ist es auch möglich, beide Therapieformen zu kombinieren, was bei Betroffenen zu einer schnelleren und ausgeprägteren Angstreduktion führen kann.

Wie hoch sind Verbesserungschancen für Betroffene?

Die Prognosen für eine Therapie ist besser, je konsequenter man im Rahmen der Expositionstherapie die korrigierende Erfahrung der Angstfreiheit macht. Am Ende sehen wir, dass über die Hälfte der Patienten eine so große Verbesserung sehen, dass sie im Alltag keine signifikante Beeinträchtigung mehr haben. Generell sprechen auf eine solche kognitive Verhaltenstherapie um die 60 bis 70 Prozent der Betroffenen an. Für die verbleibenden rund 30 Prozent ergänzt man eine medikamentöse Therapie, deren biologische Effekte letztendlich den biologischen Effekten der Verhaltenstherapie ähneln.

Haben Sie Mut zur Einschätzung Ihrer eigenen Lage!“

Was sollte jeder Mensch über Angst wissen?

Holen Sie sich dann Hilfe, wenn Angst Sie belastet oder beeinträchtigt! Das ist immer eine subjektive Erfahrung: Der eine hat fünf Panikattacken, ohne, dass darauf etwas folgt, bei anderen wiederum stößt schon eine Panikattacke eine Entwicklung an, die für ihn oder für sie nicht mehr gut alleine aufzufangen ist. Machen Sie sich unabhängig von externen Kommentaren. Ich höre immer wieder von Patienten, die berichten, dass sie sich erst nach einer relativ langen Leidenszeit an mich wenden, weil ihr Umfeld ihnen gesagt hat: „Ist alles nicht so schlimm, du musst dich nur mal zusammenreißen!“ Das ist falsch: Psychische Erkrankungen wie die Antriebslosigkeit bei einer Depression oder das Vermeiden der U-Bahn bei einer Angsterkrankung haben nichts mit Zusammenreißen zu tun. Das sind Zeichen dafür, dass die individuelle Kompensationsmöglichkeit überschritten ist und dann sollte man unabhängig von den Kommentaren der Außenwelt sagen: „Ich brauche jetzt Hilfe“. Haben Sie Mut zur autonomen Einschätzung Ihrer eigenen Lage!

Interview: Elisa Voß

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