Tosender Jubel kommt auf, als die ältere Dame die Bühne verlässt. Marlene Stamerjohans aus Wilhelmshafen ist 74 Jahre und hat gerade ihren Text im Finale des Slam 20.50 vortragen. Der Altersdurchschnitt im Publikum liegt bei vielleicht 25 Jahren. Und doch: Das, was soeben dargeboten wurde, beeindruckt die Jugend. Entgegen dem Vorurteil, Poetry Slams seien die Spielwiese junger Literaten und vorwiegend ein Comedy-Abklatsch, bewies die immer noch aktiv durch die deutsche Slam-Szene reisende Stamerjohans das genaue Gegenteil.
Und eben diese Entwicklung beabsichtigt das Konzept der Veranstalter Chris Wawrzyniak und Sebastian 23. Beim dreitägigen Poetry Slam-Festival der Generationen „Slam 20.50“, das vom 22. bis 24. September in den Herner Flottmann-Hallen stattfand, wollten die beiden „schauen, wem die Zukunft gehört“. An drei Tagen wurde Unter20Jährigen und Über50Jährigen von erfahrenen Poetry Slammern in Workshops Techniken zum Schreiben und Vortragen von Slam-Texten vermittelt. Bei einem Ü50-Slam und U20-Slam sollten sich beide Gruppen getrennt messen, um sie danach beim Generationen-Finale zusammenzuführen. Einer der Workshop-Leiter war Wolf Hogekamp, der mit Sebastian23 das Generationen-Finale moderierte und 1993 den ersten Poetry Slam in Deutschland startete. Das von der Stadt Herne finanzierte Festival sollte unter dem Stichwort „Nachhaltigkeit“ eine Fortsetzung des Kulturhauptstadtprojekts 2010 werden. Während die Workshops nachmittags stattfanden, gab es abends die Resultate zu betrachten.
Die Praxis bestätigt die Theorie
Beim Ü50-Slam am Freitag bat Sebastian23 Hogekamp als „Opferlamm“ auf die Bühne, um dem ersten Poeten den Einstieg zu erleichtern. Der Berliner berichtet hierin oft von der Hauptstadt und der dortigen Jugendszene. Jugendsprache spricht er nicht, er ist das Sinnbild der Jugend und prägt diese Sprache. Im Wettbewerb gab es Texte von Prof. Dr. Klaus Urban, Franzi Röchter, Marlene Stamerjohans und Jürgen, einem Teilnehmer der Workshops. Dieser stellte passend zum Konzept Auszüge aus der Satzung seines Seniorenvereins vor, die nur allzu bekannte und komische Wahrheiten von langsamen Rentnern mit „offensiv mürrischem“ Gesichtsausdruck offenlegten.
Zwei weitere Workshop-Teilnehmer trauten sich beim U20-Slam am frühen Samstagabend auf die Bühne. Katelin und Narges machten erfolgreich die ersten Bühnenerfahrungen, während Johannes, Sebastian und Sascha schon abgeklärt und routiniert vortrugen. Besonders hängen blieb Friederikes Hommage an ihren Heimatort Visquard, ein 700 Seelen-Dorf in Ostfriesland, und die Trostlosigkeit der dort lebenden Jugend. Simon, der den U20-Slam gewann und sich einen der letzten Startplätze für den U20-Slam bei den deutschen Poetry Slam-Meisterschaften in Hamburg sicherte, überzeugte mit „Rocken statt Rente“ und „Reden statt Schweigen“. Beide Texte sorgten schon bei den Bochumer U20 Stadtmeisterschaften für Begeisterung. Bei beiden Slams, wie auch beim Finale, trat Theresa Hahl als „Featured Poet“ auf und zeigte Publikum und Poeten Texte von atemberaubender literarischer Komplexität.
Das abschließende Generationen-Finale stand ganz im Zeichen von Marlene Stamerjohans, die mit ihrem sozialkritischen Appell „Text ist Nachricht“ den Sieg davontrug. Hier zeigte sie den Wert des Poetry Slam, in Texten ernste Botschaften zu kommunizieren, und verkörperte durch ihren Auftritt, was die Poetry-Szene so erfolgreich macht: der Drang, eigene Literatur auf Bühnen zu präsentieren, und die Unwichtigkeit des Gewinns. Den Siegerpokal streckte sie zwar freudig in die Luft, doch die 74Jährige bestätigt damit nur den Sieg des Konzepts.
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