„Es war ein Abend mit geschickter Rhetorik und textsicheren Slammern, doch den größten Applaus gab es, als der Moderator das abgefallene Mikrofonkabel ansteckte.“ Einen ähnlichen Satz wollte Sebastian 23 in den Zeitungen lesen. Am Abend hätte der Applaus bei dieser Szene deutlich größer ausfallen müssen, war die traute Zweisamkeit von Moderator und Mikrofon kurzfristig unterbrochen. Beim U20-Slam im Bochumer Melanchthonsaal zergeht die Poetry-Legende nur zu gerne in langatmigen Moderationen.
Es ist der zweite U20-Slam im Melanchthonsaal und an diesem Ort auch der letzte. Aufgrund mangelnder Finanzen wird der Spielort des Jungen Schauspielhauses 2012 geschlossen. Sieben TeilnehmerInnen sind bereit, die Konkurrenz textlich auszustechen: Simon, Fabian, Carola, Sascha, Dean, Awa und Sina. Da im Publikum Poetry Slam-Neulinge sitzen, werden die Regeln erklärt: Fünf Minuten Zeit, keine Verkleidung oder Requisiten. „Wenn die Zeit überschritten wird, springe ich mit ausgestrecktem Bein in den Vortragenden. Das nennt man die ‚poetische Blutgrätsche‘“, warnt Sebastian 23. Es gibt eine Vorrunde und das Finale der besten vier Poeten. Das Publikum entscheidet mit Wertungstafeln und im Finale mit laustarkem Applaus. Elegant wirft der Moderator Zettel mit den Teilnehmernamen in die Luft, um die Startreihenfolge zu ermitteln. „Ist schon eine tolle Sache die Gravitation“, strahlt er begeistert. Als Preise winken die Stadtmeisterschaft, ein Startplatz bei den deutschsprachigen Meisterschaften 2011 in Hamburg, sowie ein Buchgutschein.
Das „Opferlamm“ schreitet zur Tat
Sebastian 23 beginnt persönlich, als „Opferlamm“, um dem ersten Slammer die schwere Aufgabe des Anfangs zu erleichtern. Hiernach sind frische Texte der Poeten unter 20 zu erleben. Simon dichtet über einen Dialog mit seinem Opa: „Rocken statt Rente“. Der Senior spricht fließend Jugendsprache und ist vor Übermut kaum zu bremsen. Es folgt Carolas Text über die Fahrt in einem Zug, während der sie in einer Traumwelt Abstruses beobachtet. Ständig spricht sie ein Unbekannter an, der wissen will, wann sie aussteigen. Der Text bewegt sich zwischen Gewissem und Ungewissem, nie kann man sicher sein, was gerade wirklich passiert. Ein anspruchsvoller Beitrag, der gedruckt noch besser wirken würde. Dagegen gehen Dean mit einer Wutrede gegen einen Lehrer und Awa mit einer Philosophie über das Universum in den Wettstreit. Die Vorrunde beendet Sina mit einem Bericht über ihre Erlebnisse auf dem Hurricane Festival 2010. Dreck, Schweiß, Alkohol. Hygiene ist dort ein Fremdwort und am Ende hat die vorwarnende Mutter doch mit allem Recht.
Das Publikum richtet, die Finalisten stehen fest: Dean, Simon, Awa und Sina. Auch im Finale tragen sie lebendige Texte zu aktuellen Themen vor. Die 15-jährige Awa erzählt forsch von „Kennste nich“. In der Liebeswelt ihrer Freundinnen scheint er kein Unbekannter zu sein. Sie nennen seinen Namen, wenn die Slammerin nach dem aktuellen Freund fragt. Simon berichtet in "Reden und Schweigen" über auffallende "Sprachverschwender" und introvertierte Zuhörer. Die zweite Finalistin Sina begrenzt das Sichtfeld ihres Textes: Es geht um ihre Brille.
Nach Applaus-Abstimmung steht die Siegerin fest. Sebastian 23 ehrte die neue Stadtmeisterin: Sina überzeugte das Publikum. Nach ihrem Sieg gab die frische Stadtmeisterin ergriffen zu: „Ich habe gerade Tränen in den Augen… aber nicht wegen des Buchgutscheins“. Emotional angeschlagen las sie eine Zugabe. Wie alle Texte des Abends bot auch diese Abwechslungsreiches und Humorvolles von unerwartet hoher Qualität. Die Jungtalente präsentierten Texte, die denen der bekannteren Slammern nur unwesentlich nachstehen. Ein beruhigender Blick in die poetische Zukunft.
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