Wenn Polen in den letzten Jahren international Schlagzeilen gemacht hat, dann ging es meist um die zusehends totalitäre Richtung, in die die nationalkonservative Regierungspartei PiS (Recht und Gerechtigkeit), das Land steuert: Nach einer umstrittenen Justizreform sah sich die Europäische Kommission beispielsweise gezwungen, prüfen zu lassen, wie unabhängig die polnische Justiz überhaupt noch ist. Und neben der Rechtsstaatlichkeit stehen auch die Presse- und Kunstfreiheit unter Druck der autoritären Regierung.
Unterdessen konnte die Partei PiS stets auf ihre enge Verbundenheit mit der katholischen Kirche bauen. Letztere hat in Polen eine besondere Stellung als moralische Autorität: Die meisten Polen sind nicht nur auf dem Papier katholisch, sondern auch tatsächlich oft streng gläubig. Daraus ergibt sich eine mächtige Allianz zwischen PiS-Partei und Kirche. „Wer die Hand gegen die Kirche erhebt, der erhebt die Hand gegen Polen“, heißt es beim Parteivorsitzenden Jarosław Kaczyński. Bei vielen konservativen Polen kommen solche Aussagen gut an.
Unter diesen Vorzeichen erfordert es Mut, einen Film zu drehen, der sich kritisch mit der Institution Kirche auseinandersetzt. Doch genau das tat Regisseur Wojciech Smarzowski mit seinem Spielfilm „Kler“ (Klerus), der im Herbst 2018 in die polnischen Kinos kam. Anhand von drei Priestern und einem Bischof werden in diesem allerlei Probleme einer scheinheiligen Kirche thematisiert, die von Alkoholismus über Korruption, Erpressung, Vertuschung und geschwängerten Haushälterinnen bis hin zu Pädophilie und sexuellem Missbrauch reichen. Erwartungsgemäß ließen die Reaktionen nicht lange auf sich warten. Eine Provokation oder gar Teufelswerk sei der Film einigen Kirchenvertretern und PiS-Politikern zufolge. Auf dem nationalkonservativen Nachrichtenportal wpolityce.pl war die Rede von einem „Angriff auf Priester, der an die Propaganda der Nazis gegen die Juden erinnert“. Darüber hinaus wurden Kinos in einigen Städten von der Lokalpolitik daran gehindert, den Film zu zeigen. All das hielt über fünf Millionen Kinobesucher in Polen trotzdem nicht davon ab, den Film zu sehen. „Kler“ wurde so zum dritterfolgreichsten Kinofilm in Polen nach 1989 und war ein Tabubruch, der das Land spaltete. Zuschauermassen waren in ihrem kompletten Weltbild erschüttert. In vielen Köpfen wurde ein Umdenken angestoßen und das Thema Missbrauch durch Angehörige der Kirche auf die öffentliche Agenda gesetzt.
Diese Debatte wurde nun durch einen weiteren Film neu angeheizt: Im Dokumentarfilm „Tylko nie mów nikomu“ (Sag es niemandem), werden Missbrauchsopfer mit versteckter Kamera begleitet während sie ihre Peiniger zur Rede stellen. Zudem wird aufgedeckt, wie Priester, denen bereits der Umgang mit Kindern untersagt wurde, noch immer unbehelligt weiter in der Kirche arbeiten – und Messdiener um sich haben. Der Journalist Tomasz Sekielski, der den Film gemeinsam mit seinem Bruder Marek produziert hat, stieß anfänglich auf Probleme mit der Finanzierung des Filmes, da Fernsehsender und Filmproduzenten Angst hatten, mit einem solch kontroversen Film in Verbindung gebracht zu werden. Schließlich wurde der Film per Crowdfunding finanziert und am 11.05.2019 auf YouTube veröffentlicht. Nach nur zwei Tagen war der zweistündige Film schon mehr als acht Millionen mal aufgerufen worden, Ende Mai schon 22 Millionen mal. Zum Vergleich: Polen hat 38,4 Millionen Einwohner.
Die Folgen sind enorm: Viele Menschen sind tief berührt und fordern, dass sich grundlegend etwas ändert. Für die PiS-Regierung ist ein weiteres Verdrängen des Themas nicht mehr möglich und die Partei geriet vor der Europawahl in Bedrängnis. Wenig später wurde ein verschärftes Gesetz verabschiedet, das Gefängnisstrafen von bis zu 30 Jahren bei Kindesmissbrauch vorsieht. Und auch die Kirchenführung gab sich reumütig. Wojchiech Polak, Erzbischof von Gnesen und Primas der katholischen Kirche in Polen nannte den Film „wertvoll“. Er sprach von „Scham“ sei „zutiefst bewegt“ und bitte „um Vergebung für alle Verletzungen, die durch Männer der Kirche zugefügt wurden“. Ob diese Worte auch ohne die Arbeit der mutigen Filmemacher Smarzowski und Sekielski so geäußert worden wären, darf bezweifelt werden.
Papst Franziska - Lesen Sie weitere Artikel
zum Thema auch unter: choices.de/thema und engels-kultur.de/thema
Aktiv im Thema
ikvu.de | Die Initiative Kirche von unten setzt sich für eine gerechte und pluralistische Kirche ein.
wir-sind-kirche.at | Die österreichische Plattform fordert Erneuerungen in der römisch-katholischen Kirche und eine Umsetzung des „Kirchenvolks-Begehrens“ von 1995.
ukk-online.org | Wer nicht dem Papst folgen und dennoch katholisch bleiben will, findet in der Unabhängig-katholischen Kirche eine Alternative.
Fragen der Zeit: Wie wollen wir leben?
Schreiben Sie uns unter meinung@trailer-ruhr.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
„Die haben meine Kinderseele zerstört“
Interview: Markus Elstner wurde als Zwölfjähriger von einem Priester missbraucht – Spezial 03/20
„Diese Nähe darf nicht passieren“
Interview mit Marcus Bensmann: Wusste Ratzinger von pädophilem Priester? – Spezial 03/20
Hier und Jetzt
Intro - Papst Franziska
Ein Bock namens Gärtner
Katholische Kirche arbeitet sexuellen Kindesmissbrauch nur halbherzig auf
„Kein Täter darf sich sicher fühlen“
Rechtswissenschaftler Holm Putzke über die Aufklärung der Missbrauchsfälle
Feministischer Protest in der Kirche
Ehrenamtliche organisierten Streik in Wattenscheider Gemeinde
Die Macht der Filme
Millionen schockiert über Missbrauch – Europa-Vorbild: Polen
Zölibat oder Ejakulat. Die Leiden des heiligen Johannes
Die Leiden des heiligen Johannes
Gefahrenzulage
Intro – Arbeit oder Leben?
Verfassungsbruch im Steuer-Eldorado
Teil 1: Leitartikel – Die Reichsten tragen hierzulande besonders wenig zum Gemeinwohl bei
„Das kann man mit keiner Gerechtigkeitstheorie erklären“
Teil 1: Interview – Historiker Marc Buggeln über Steuerpolitik und finanzielle Ungleichheit in Deutschland
Vermögenssteuern für Klimaschutz
Teil 1: Lokale Initiativen – Co-Forschungsprojekt betont sozio-ökologische Herausforderung
Sinnvolle Zeiten
Teil 2: Leitartikel – Wie Arbeit das Leben bereichern kann
„Mehr Umsatz, mehr Gesundheit“
Teil 2: Interview – Unternehmer Martin Gaedt über die Vier-Tage-Woche
Bereicherte Arbeit
Teil 2: Lokale Initiativen – Der Verein Migration und Arbeitswelt
Über irrelevante Systemrelevante
Teil 3: Leitartikel – Wie Politik und Gesellschaft der Gerechtigkeitsfrage ausweichen
„Die Gesellschaft nimmt diese Ungleichheiten hin“
Teil 3: Interview – Soziologe Klaus Dörre über Armutsrisiken und Reichtumsverteilung
Betroffen und wehrhaft
Teil 3: Lokale Initiativen – Wuppertals Solidaritätsnetzwerk
Bildung für mehr Miteinander
Pflichtfach Empathie – Europa-Vorbild Dänemark
Der heimliche Sieg des Kapitalismus
Wie wir vergessen haben, warum wir Karriere machen wollen – Glosse
Ablenkungsversuch
Intro – Hab’ keine Angst
Keine Panik!
Teil 1: Leitartikel – Angst als stotternder Motor der Vernunft
„Nicht nur ärztliche, sondern auch politische Entscheidung“
Teil 1: Interview – Psychiater Mazda Adli über Ängste infolge des Klimawandels
Weltweit für Menschenrechte
Teil 1: Lokale Initiativen – Amnesty International in Bochum
Angst über Generationen
Teil 2: Leitartikel – Wie Weltgeschehen und Alltag unsere Sorgen prägen