Wie das Leben so spielt: Als sich der junge James Fenimore Cooper und der noch jüngere Ned Myers 1806 an Bord eines Handelsschiffes begegnen, ist noch nicht abzusehen, wohin ihre Reisen tatsächlich führen. Der eine hat gerade sein Studium abgebrochen, versucht sich stattdessen als Offizier zur See, während der andere seinem Stiefvater den Stinkefinger gezeigt hat und nun als Schiffsjunge über die Runden zu kommen trachtet. Als sie sich dreißig Jahre später wiedersehen, hat sich ihre Wirklichkeit gewaltig verschoben. Eine nicht unerkleckliche Erbschaft, eine noch reichere Heirat sowie fünf Lederstrumpf-Bände und nicht zuletzt der für ihr Wiedersehen verantwortliche Seefahrerroman „Der Lotse“ haben Cooper überaus populär gemacht, während das „stürmische“ Leben des einstigen Schiffskameraden Stoff für eine berauschende Abenteuersammlung vom Walfang über Seekriege bis hin zum Opiumschmuggel birgt: „Ned Myers oder Ein Leben vor dem Mast“ [Mare, 399 S., €22,95] mag erzähltechnisch nicht so gewaltig wie Melvilles »Moby Dick« sein, dafür aber gewaltig realer. Und dabei spielt es keine Rolle, wie hoch der Wahrheitsgehalt letztlich einzuschätzen ist. Die Wege und Umwege zeichnen das Leben aus …
Brita Steinwendtner „An diesem einen Punkt der Welt“ [Haymon, 320 S., €22,90]: Tom ist ein Träumer, ein Idealist, ein Dilettant. So wie ihn die Musik und die Literatur mitreißen, auf immer neue Gedanken bringen, will er die Menschen aus seinem Kaff mitnehmen, zu neuen Ufern führen. Der Versuch ist aller Ehren wert, doch in seinem Fanatismus steht er sich beständig selber im Weg. Ein leises Szenario des Untergangs – im Duktus von Bob Dylan.
Daniel Friedmann „Der Alte, dem Kugeln nichts anhaben konnten“ [Aufbau, 320 S., €17,99]: Als Detective mag Buck Schatz ein echtes Ass gewesen sein. Mit 87 ist er allerdings kaum mehr als ein kettenrauchender Klugscheißer, der an der Passgenauigkeit seines Sessels arbeitet – bis er sich widerwillig mit seinem Enkel auf die Jagd nach einem ehemaligen SS-Lageraufseher und dessen Goldmillionen macht. Schnoddrig turbulent, kurzweilig und nicht unverdient bereits mit dem Prädikat »Filmrechte verkauft« versehen.
Eva Demski „Scheintod“ [Insel, 399 S., €22,95]: 12 Tage. 12 Tage, bis ein Anwalt aus der linken Szene von der Gerichtsmedizin zur Bestattung freigegeben wird. 12 Tage, in denen sich die Witwe mit seinem zwielichtigen Leben, seiner ideologischen Arbeit und ihrer undurchsichtigen Liebe auseinandersetzen muss. Ein feinsinniger Roman, der auf allen Ebenen überzeugt; Zeitzeugnis und Reise ins Ich zugleich.
Helge Timmerberg „Die Märchentante, der Sultan, mein Harem und ich“ [Malik, 256 S., €19,99]: Eine Märchen erzählende Baronin in den Wirren des anfänglichen 20. Jahrhunderts als Mann verkleidet auf Tournée durch den Orient. Ein Trip, auf den der so garstig-zotige wie leidenschaftliche Reiseautor einfach aufspringen muss, für den er sogar Vorschüsse für ein Drehbuch kassiert, um doch wieder – wie bei all seinem Wandern – unverwüstlich auf dem Boden der Realität zu landen. Aber: „Wer einen Traum verliert, gewinnt das Leben.“ Oder um im Sinne dieser Zeilen abzuschließen: Der Umweg ist das Leben, ob er uns nun umbringt oder nicht.
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