Kinokalender
Mo Di Mi Do Fr Sa So
29 30 1 2 3 4 5
6 7 8 9 10 11 12

12.558 Beiträge zu
3.787 Filmen im Forum

„Die Odyssee“
Foto: © Thilo Beu

Zyklop auf Hartz IV

25. September 2014

Volker Lösch inszeniert „Die Odyssee“ am Theater Essen – Theater Ruhr 10/14

Wer sich einen Volker-Lösch-Abend verabreicht, muss vorher nie seinen Arzt oder Apotheker fragen. Die Nebenwirkungen sind bekannt. Knallige Gegenwartsbezüge, drastische Simplifizierungen, zugespitztes dokumentarisches Material gehören zu den Rezepturen seiner Inszenierungen. So ist auch der Untertitel „Lustig ist das Zigeunerleben“, den Lösch seiner Essener Interpretation des „Odyssee“-Epos’ verpasst, nicht auf die Irrfahrten des Odysseus anzuwenden, sondern deutet ironisch ins Konkrete: Es geht an diesem Abend um Roma und Sinti.

Doch der Reihe nach. Auf der Bühne im Grillo-Theater gibt sich eine weißgekleidete Sechser-Truppe mit Blondhaarperücke an einer Tafel auf der Vorbühne die zivilisierte Kante mit Rotwein und Steak. Odysseus samt Gefährten und Göttern pflegen ihr distinguiertes Hochkultursyndrom. Sie schwadronieren mit aufgeplustertem Hochmut und werden seekrank, wenn es auf große Fahrt geht. Die sechs Schauspieler agieren meist als Chor, übernehmen aber auch abwechseln die Rolle des Odysseus oder der Götter. Die Stationen der Odyssee, also die Begegnungen mit dem Zyklopen Polyphem, den Lothophagen oder der Zauberin Kirke, sind in ein aufgeschnittenes Haus im Hintergrund verlagert. Verkörpert werden die irrational-triebhaften Wesen von sechs Roma- und Sinti-Schauspielern. Eine durchaus problematische Setzung, doch Lösch deutet Polyphem & Co. als rassistische antiziganistische Projektionen. Vulgo: Als Klischees, die die Odysseus-Truppe, also wir, den Roma überstülpt. Der Zyklop ist demgemäß ein fetter, fernsehglotzender Hartz-IV-Prolet in einem schäbigen Haus in Südeuropa; die vegetarischen Lothophagen sind arbeitsscheue freakige Bio-Hippies, die Laistrygonen eine verkitschte Balkantruppe im Goldlamé-Pailletten-Rüschenhemd-Glitzer-Look.

Lösch deutet den Odysseus-Mythos als Etablierung des bürgerlichen Subjekts, das mit Hilfe von Rationalität, List, Triebverzicht, Hierarchie, Patriarchat seine Macht etabliert. Der griechische Held und seine Kumpane werden darüber zu Witzfiguren zivilisatorischer Selbstdomestikation. Dass sie weitgehend an den Rand rücken, liegt daran, dass Lösch noch eine dritte Ebene einzieht: Die Roma-Schauspieler treten immer wieder aus ihrer Rolle heraus und prangern in individuellen Stellungnahmen, die in Essen und Umgebung gesammelt wurden, den Rassismus an, unter dem sie zu leiden haben. Da ist von Kinderarbeit die Rede, von Drangsalierung, aber vom Paternalismus der Roma, sowie von einem eigenen Staat. Tief berührend die Szene, wenn Odysseus in die Unterwelt hinabsteigt und dort auf die Namen von im KZ ermordeten Essener Roma trifft. Es bleibt allerdings ein Grundwiderspruch. So gibt die Inszenierung letztlich exakt das der Lächerlichkeit preis, woran die Roma endlich vorbehaltlos teilhaben wollen. Löschs Inszenierung hat durchaus ihre überzeugenden Momente, bleibt aber in ihrer vorbehaltlosen Parteinahme zu einseitig und letztlich inkonsequent.

„Die Odyssee“ | R: Volker Lösch | Fr 10.10. 19.30 Uhr, So 19.10. 16 Uhr | Theater Essen | 0201 81 22 200

HANS-CHRISTOPH ZIMMERMANN

Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.

Neue Kinofilme

Challengers – Rivalen

Lesen Sie dazu auch:

Abschied und Artusepik
„Merlin oder Das wüste Land“ in Essen – Prolog 04/23

„Bedürfnis nach Wiedergutmachung“
Aisha Abo Mostafa über „Aus dem Nichts“ am Theater Essen – Premiere 02/23

Rache für den Gedankenstrich
„Marquise von O…“ in der Essener Casa – Auftritt 11/20

„Den Begriff Familie mal überdenken“
Intendant Christian Tombeil über das Essener Spielzeitmotto „We are family“ – Premiere 09/20

Love is in the air
Der Theater-März im Ruhrgebiet – Prolog 02/19

Böse Welt da draußen
„Auerhaus“ im Essener Casa – Theater Ruhr 01/19

Das rituelle Begräbnis von Visionen
„Proletenpassion“ zum Ende des Bergbaus in Essen – Auftritt 06/18

„Der ewige Konflikt zwischen Mensch und Maschine“
Nils Voges zur Inszenierung von „Metropolis“ im Theater Essen – Premiere 02/18

Inspiration Ruhrpott
TUP-Festtage 2018: Kunst5 „Heim Art“ – das Besondere 02/18

Scheitern des Verschwindens
Festival „638 Kilo Tanz“ in Essen – das Besondere 11/16

Zwischen Wunschpunsch und Biofleisch
Die Letzten sind nie die Ersten. Vorweihnachtsstücke im Ruhrgebiet – Prolog 10/16

Jack Sparrow singt Oper
Guy Joosten inszeniert „Die schweigsame Frau“ in Essen – Oper in NRW 04/15

Theater Ruhr.

Hier erscheint die Aufforderung!