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Erst Kloster, jetzt Kunstpalast
Foto: Francis Lauenau

Vom Kulturbiotop zum Szeneviertel

29. Oktober 2012

Die Off-Kulturen in den Ruhr-Städten zaubern in alte Stadtviertel neues Leben – Thema 11/12 NEUE URBANITÄT

Von der Viehhofer Straße über den Pferdemarkt, die Rottstraße bis zurück zur Friedrich-Ebert-Straße und in die Kastanienallee hinein schießen unorthodoxe Geschäftsideen wie Farbkleckse aus der Eintönigkeit. Weiße Gartenzäune und adrette Begonienbeete in gezirkelten Vorstadtvorgärten werden nicht mehr mit einem anzustrebenden Wohlstand verbunden. Suburbia war gestern. Zwischen den Zustand verödeter Zentren und das düstere Szenario einer Gentrifizierung schiebt sich eine Phase, die man als „neue Urbanität“ bezeichnen könnte. Ein Beispiel dafür findet man momentan in der Essener Nordstadt. Ausgangspunkt ist das inzwischen seiner frühen, subversiven Experimentierphase entwachsene UnPerfekthaus. Hier paart sich Kreativität mit unternehmerischem Geist, es wird Wert auf Nachhaltigkeit gelegt. Nicht nur von dort aus weht der Geist des Aufbruchs in das städtebaulich einst vernachlässigte Viertel, das inzwischen durch die Ruhrmetropole als Kreativquartier beworben wird. Publikumswirksame Veranstaltungen wie der Anfang September erfolgreich ausgerichtete Art Walk dienen dazu, Skeptiker von der Lebendigkeit dieser kreativen Keimzelle zu überzeugen.

Die bunte Vielfalt endet nicht bei den Galerien und Institutionen wie eben dem UnPerfekthaus, dem GenerationenKulthaus GeKu oder dem GOP Varieté in Essen. Eine neue Urbanität bloß als wirtschaftliche und architektonische Aufwertung zu bezeichnen, wäre zu kurz gegriffen. Klarheit bringt ein Bummel durch den Nordteil der Essener Innenstadt. Der Tag gehört unkonventionell geführten Tätowier- und Piercingstudios. Abends lebt die Eventkultur in Kneipen und Clubs wie Turock, Panic Room und Nord auf, bei Open Sessions und Konzerten fühlen sich vom Punkrocker bis zum Metaller alle wohl.

Ein vergleichbares Bild bietet sich in Bochum. Wer von Ehrenfeld über die Rotunde bis zur Christuskirche und Rottstraße spaziert, befindet sich im Offline-Viertel. Diese Bezeichnung beginnt sich allmählich für diese Achse zu etablieren, deren äußere Grenzen Königsallee und Viktoriastraße markieren. Ein seit Mai 2012 herausgegebener Kalender versucht unter dem Titel „Offline“, alle freien Kunstveranstaltungen dieses Gebiets zu bündeln. Honke Rambow, Sprecher des Rottstr. 5 Theaters, trägt die Termine zusammen und konzipiert den monatlichen Flyer. Den Begriff des „Kreativquartiers“ lehnt er aber als „zu unklar und inhaltsleer“ ab. Denn Projekte wie die Goldkante an der Alten Hattinger Straße verstehen sich als Plattform für unabhängige Musik, Film und Theater. Aber auch sie werden nun mal unter ökonomischen Kriterien geführt. Im Fall der Rotunde verhält es sich ähnlich. Das wirft zudem die Frage auf, ob Partys auch Teil der Off-Kultur sein können. Beispielsweise als Ort, wo sich die Szene trifft. Auch die Einzelhändler, die „Laufkundschaft“ locken, lassen sich als wichtiger Motor für die Lebendigkeit eines solchen Viertels bewerten. Ohne sie blieben Künstler isoliert unter sich. Ein solcher Raum kann demnach nur gelebt werden, wenn die richtigen Infrastrukturen bestehen. Ob dies jedoch städteplanerisch forciert, unterstützt oder nurdas autark Gewachsenegefördert werden soll – daran scheiden sich die Geister. Während in Essen im Umkreis des UnPerfekthauses gewisse Strukturen bereitgestellt werden, verhält es sich in Bochum offenbar ein wenig anders. Christof Wieschemann, Vorsitzender des Kuratoriums der Bochumer Christuskirche und Mitbegründer des gemeinnützigen Vereins „Bochum bewegen“, plädiert für die Unterstützung natürlich entstandener Viertel. Die von unten gewachsene Off-Szene versteht er als „verdichtete Urbanität“, die es zu fördern gilt. Ziel des Vereins ist es, eine strukturierte Kommunikationsplattform zu schaffen und Künstler miteinander zu vernetzen. Indem Sichtbarkeit für die abseits der Hochkultur auf die Beine gestellten Kunstprojekte erzeugt wird, soll zudem auch das Interesse des externen Publikums auf die Aktivitäten in Bochum gelenkt werden. Insgesamt wird der Wert von Kultur damit durch praktisches Engagement zur öffentlichen Debatte gestellt. Dennoch sind solche Projekte immer wieder auch auf Unterstützung von außerhalbangewiesen. Bochumzeigt sich da kooperativ: „Mit gut durchdachten Konzepten läuft man hier offene Türen ein“ bestätigt Wieschemann, kritisiert allerdings die lokale Tagespresse. Über Off-Kultur werde kaum berichtet, das kulturelle Gesamtangebot der Stadt nicht in seiner ganzen Fülle abgebildet.

Was diese neue Urbanität ausmacht, muss sich erst noch zeigen. Sie könnte sich als ein hochdynamischer Prozess darstellen. Getragen von verschiedenen Akteuren mit unterschiedlichen Interessen ergibt sich so ein heterogenes Experimentierfeld. Was für ein Stellenwert dabei der autonomen Kunstszene beigemessen wird, welche Aktivitäten von welcher Seite wie unterstützt und was für Räume dabei erschlossen werden – all diese Aspekte werden das Stadtbild künftig prägen.

Weitere Artikel zum Thema in unseren Partnermagazinen:
www.choices.de/urban-es-en-jefoehl
www.engels-kultur.de/kulturstadt-im-tal

Maxi Braun

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