trailer: Herr Spieckermann, können Sie für unsere jüngeren Leser einen kurzen geschichtlichen Rückblick wagen?
Gerd Spieckermann: Der Bahnhof Langendreer ist 1986 eröffnet worden. Zuvor gab es aber schon eine sehr lange Auseinandersetzung mit der hiesigen Lokalpolitik um ein selbstverwaltetes Kulturzentrum mit den üblichen Geschichten: Hausbesetzung, Räumung, nächste Hausbesetzung, nächste Räumung. In Bochum fanden Demonstrationen statt mit ein paar tausend Leuten. Aber keines der Projekte konnte sich durchsetzen. In dieser Zeit sollte der Bahnhof Langendreer abgerissen werden. Man wollte Parkplätze hier hin bauen. Da gründete sich eine Initiative, die den Bahnhof erhalten wollte. Man sagte, man kann nicht nur besetzen, auf die Straße gehen, man muss auch mit den politisch Verantwortlichen reden. Christoph Zöpel war Bauminister in NRW. Zöpel ist Bochumer und war in der SPD eher am linken Rand angesiedelt. Er unterstützte bereits andere ähnliche Projekte. Die Stadt Bochum, damals von einer absoluten SPD-Mehrheit regiert, hatte aber große Schwierigkeiten mit der Initiative. Die Stadt kaufte nach langen Verhandlungen das Gebäude von der Bundesbahn und stellte es der Initiative zur Verfügung. Das Land förderte den Umbau mit etwa 2 Millionen DM. Der Eigenanteil der Initiative bestand hauptsächlich aus einer „Muskelhypothek“, der Arbeitsleistung der Beteiligten.
Das klingt alles sehr harmonisch.
SPD und Bahnhof verband in den Anfängen eine sehr intensive Hassliebe. Für die Betonfraktion der SPD in Bochum war der Bahnhof ein rotes Tuch. Wir galten als Hort der Staatsfeinde.
Die Väter kamen nicht mehr mit ihren Kindern klar?
Ich möchte das nicht auf einen Eltern-Kind-Konflikt reduzieren.
Pardon, aber die Kinder haben sich ihren Eltern doch inzwischen angenähert?
Es hat auf beiden Seiten eine Entwicklung gegeben. Der Bahnhof wird zwar noch immer als ein linkes Projekt gesehen. Aber schon längst haben wir mit allen Ratsfraktionen ein vernünftiges Arbeitsverhältnis entwickelt, und PolitikerInnen aller Parteien sind selbstverständlich auch Gäste im Bahnhof, auch wenn es natürlich auch Konflikte gibt.
Welche?
Vor einem Jahr hat die Junge Union eine Kampagne gestartet, in der behauptet wurde, dass sich im Bahnhof Langendreer Leute treffen, die beim G8- Gipfel in Heiligendamm Polizisten verprügeln.
Sie sehen aber nicht so aus, als ob Sie Polizisten verprügeln.
Hab ich auch noch nie getan. (lacht)
Es gibt unüberhörbar die großen Events. Hat da das kleine Blümchen zwischen den Pflastersteinen, die Alternativkultur, überhaupt noch eine Chance?
Es gibt seit mehr als zehn Jahren einen Trend zum Event. Aber es gibt auch noch die Alternativkultur. Viele Alternative sind allerdings inzwischen nicht mehr alternativ. Vieles, was in der Szene entstanden ist, fand Eingang in das normale kulturelle Leben. Manches wird auf unerträgliche Weise popularisiert und in den Privatsendern abgefeiert. Wenn man sich die Comedy-Sendungen anguckt, dann sieht man oft Leute, die in der Zeche Carl oder im Bahnhof Langendreer angefangen haben. Das Alternative ist marktgängig geworden, auch marktgängig gemacht worden.
Sie wurden verraten und verkauft?
Nein. Im Gegenteil. Viele gute Ideen haben sich eben durchgesetzt. In jedem Theater finden sie Besuchereinführungen. Bei den soziokulturellen Zentren standen solche Vermittlungsschritte immer auch im Vordergrund. Ein Theater sollte nicht nur ein Programm machen für diejenigen, die mindestens Abitur haben. In jedem Schauspielhaus finden Sie inzwischen ein Junges Theater. Dies alles wurde, zum Glück, von den alternativen Anbietern abgekupfert.
Wo haben Sie sonst noch Spuren hinterlassen?
Die Umnutzung alter Industriedenkmäler, durch IBA und RUHR 2010 propagiert, hatte ihren Ursprung in der Alternativbewegung. Die Ruhrtriennale rühmt sich, die Jahrhunderthalle vor dem Verfall bewahrt zu haben. Das ist sehr beschönigend formuliert. Das Kulturhaus Thealozzi hat schon Jahre vorher in der Jahrhunderthalle inszeniert, nur hatten sie nicht Millionen Euro zur Verfügung. Die Gebäude Zeche Carl und Bahnhof Langendreer gäbe es nicht mehr, wenn es die Zentren nicht gegeben hätte. Die Industriegebäude des Ruhrgebiets haben für das Gefühl der Menschen hier eine wichtige Funktion. Ich habe in Gelsenkirchen in der Kaue gearbeitet und erinnere mich gut daran, was los war, als ein Förderturm abgerissen wurde. Da standen Leute weinend davor und sagten: „Jetzt wird uns die Nase aus dem Gesicht geschlagen.“ Wer die Abrissbirne schwingt, zerschlägt auch ein bisschen die Identität der Menschen hier.
Dann hat die Kulturpolitik von Ihnen gelernt?
Bedingt. Heute wird alles inszeniert. Heute wird die Henrichshütte inszeniert. In Duisburg wird das alte Stahlwerk inszeniert.
Das klingt naserümpfend.
Ich finde es grundsätzlich gut, dass die Industriedenkmäler erhalten bleiben. Ob es gut ist, immer mit Millionen diese Standorte aufzuhübschen, wage ich zu bezweifeln. Die Jahrhunderthalle ist nicht schöner geworden. Karl Ganser, glaube ich, hat im Rahmen der IBA gesagt: „Man muss nicht alles renovieren, auch der Prozess des Verfalls hat seinen Wert.“ Wenn sich die Natur ein Gebäude zurückerobert, kann das ein ästhetischer Genuss sein.
Manches Industriedenkmal erinnert mehr an Schloss Neuschwanstein als an Maloche?
Der Landschaftspark Duisburg-Nord ist zwar nicht Neuschwanstein. Aber es geht in die Richtung.
Alle Ihre Konzepte finden sich nun im kulturellen Mainstream. Haben die Soziokulturellen Zentren überhaupt noch eine Existenzberechtigung?
Zu uns kommen jährlich weit über 100.000 Leute. Aber wenn wir nur Mainstream anbieten würden, würde sich die Frage stellen, ob man da noch öffentliche Gelder reinstecken müsste. Wir bekommen 340.000 Euro pro Jahr von der Stadt Bochum. Da kommen noch etwa 40.000 Euro aus anderen öffentlichen Töpfen hinzu. Wir haben einen Jahresumsatz von 1,3 Millionen. Diese öffentliche Förderung erlaubt es uns, Dinge zu tun, die wir uns als private Veranstalter nicht leisten könnten.
Ist RUHR 2010 aus Sicht der Soziokulturellen Zentren eher Chance oder Popanz?
Ich habe mich gefreut, als die Entscheidung im letzten Jahr gefallen ist. Aber ich habe meine Fragen an die Organisatoren. Wird Ruhr 2010 noch als Kulturereignis gesehen oder betreibt man nur Tourismusförderung? Hat das Jahr noch etwas mit den Menschen und den hier arbeitenden KünstlerInnen zu tun? Wenn ich Fritz Pleitgen oder Oliver Scheytt höre, merke ich, dass es sehr stark darum geht, Bilder zu produzieren, die weltweit vermarktbar sind. Ein gutes Beispiel hierfür ist das Projekt „Picknick auf der B1“. Jeder Fernsehsender wird seine Hubschrauber über die B1 kreisen lassen, und man wird von Japan bis Kolumbien ein eindrucksvolles Bild bekommen. Aber repräsentiert dieses Bild die Kultur im Ruhrgebiet?
Was machen Sie denn 2010?
Wir haben für jenes Jahr noch keine Programmplanung, die sich von der Planung anderer Jahre unterscheidet. Wir gehen davon aus, dass sich die Anzahl kultureller Veranstaltungen im Ruhrgebiet in 2010 vervielfachen wird. Das Publikum hier ist aber eine begrenzte Masse. Und für Auswärtige wird das Angebot der kleinen Veranstalter kaum interessant sein. Auswärtige werden die großen Events besuchen.
Früher hätte es eine alternative Kulturhauptstadtbewegung gegeben.
Leider kam eine Kooperation zwischen allen Soziokulturellen Zentren im Ruhrgebiet nicht zustande, um ein gemeinsames Programm für RUHR 2010 zu machen. Ich sehe RUHR 2010 eher positiv, Kollegen aus anderen Zentren sind da skeptischer. Die Zentren können sich große Veranstaltungen auch nicht leisten. Da muss vorfinanziert werden, da muss viel Arbeitskraft investiert werden. Dabei sind wir schon so völlig ausgelastet.
Ist die Alternativszene nicht auch zu alt geworden? Kurz vor der Rente macht man doch nicht mehr solche Partys.
Die Überalterung ist ein Problem, das viele Zentren haben. Ich habe Kollegen, die sind von Anfang an dabei. Die Leute, die in den Zentren arbeiten, sind hoch qualifiziert, ohne das entsprechende Zertifikat zu haben. Ich bin Sozialwissenschaftler und mache hier die Geschäftsführung. Konzert-Booker haben Sozialpädagogik studiert, Buchhalterinnen waren mal im Schuldienst. Ein Wechsel zu anderen Kultureinrichtungen ist somit schwer. Es gibt, bitte in Anführungszeichen, keine Karrieremöglichkeiten. Der Vorteil: Wir sind selbstverwaltet. Hier gibt es keinen Chef. Hier gibt es einen Einheitslohn vom Hausmeister bis zum Geschäftsführer. Der Nachteil: Der Einheitslohn beträgt 17 Euro brutto die Stunde. Und bei Finanzkrisen verzichtet man auf einen Teil des Gehaltes.
Das klingt fast schon nach Altersarmut. Sind die Leute, die zu Ihnen kommen, inzwischen auch in Würde ergraut?
Nein, wir haben ein junges Publikum, der Altersschnitt der Besucher liegt bei etwa 30 Jahren.
Ihre Besucher könnten Ihre Kinder sein?
Nicht Konjunktiv: Es sind teilweise auch die Kinder von AktivistInnen der Anfangsjahre. Zu Beginn des Bahnhofs wurden die Musik und das Theater auf die Bühne gestellt, die die Organisatoren selbst toll fanden. Heute ist man Dienstleister. Ein Kollege aus einem anderen Zentrum sagte mir: „Ich gehe doch nicht mehr mit persönlichem Genuss zu den Veranstaltungen, die ich selbst organisiere.“
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