Auf dem bedeutendsten deutschen Comicfestival – dem Internationalen Comicsalon Erlangen – wurden im Juni wieder allerlei Neuerscheinungen prämiert. Unter den nominierten Titeln war auch Stephen Collins' „Der gigantische Bart, der böse war“. Es ist eine Allegorie, die man schnell durchschaut: Dave lebt auf der Insel „Hier“. Dort ist alles wohlgeordnet und perfekt. Alleine die Angst vor der Unordnung und dem Chaos, dass man auf dem Festland, dem „Dort“ wähnt, sorgt für eine unterschwellige Grundangst in der Bevölkerung. Der Grund, warum Collins' Geschichte trägt, ist die dramaturgische wie zeichnerische Erzählweise: In zarten Bleistiftzeichnungen entfaltet er auf faszinierende Art eine vermeintlich heile Welt, die langsam aus den Fugen gerät – und das nicht zu ihrem Nachteil. Ein poetisches Kleinod (Atrium). Mit einem Sonderpreis wurde auch eine Übersetzungsarbeit prämiert. Eine viel zu selten gewürdigte Arbeit, weil man nicht nur sprachlich passend, sondern auch räumlich passend übersetzen muss. Der in der Regel längere deutsche Text muss schließlich in die Sprechblase passen. Bei einem Meilenstein wie Chris Wares „Jimmy Corrigan – Der klügste Junge der Welt“, einer wunderschön gezeichneten Tragödie um einen alleinstehenden Mann und seine Beziehung zu seinem lange verschollenen Vater, standen die Übersetzer der kleinteiligen Textpassagen vor besonderen Herausforderungen, die Heinrich Anders und Tina Hohl großartig gemeistert haben (Reprodukt).
Der kanadische Zeichner Seth lässt seinen Protagonisten durch das Hauptquartier der kanadischen Cartoon-Gilde streifen und „Vom Glanz der alten Tage“, als Cartoons und Cartoonisten im Land gefeiert wurden, schwärmen. Unzählige Anekdoten über Kollegen gibt er preis. Was davon am Ende wahr ist, bleibt offen. Aber Seths Erinnerung an eine von Comics beseelte Nation dürfte ebenso ein Wunschgedanke sein wie bei vielen deutschen Comic-Aficionados. In kleinen Panels mit Erzähltext frönt auch er ästhetisch dem Cartoon (Edition 52). Mit „Der Mann, der sein Leben ermordete“ von Jean Vautrin adaptiert Emmanuel Moynot einen weiteren Hardboiled-Krimi, den er im Stil seines Protegés Jacques Tardi umsetzt: Die Vorlage aus dem Jahr 2001 erzählt von klassischen Typen des Noir-Krimi: Ein entlassener Häftling, der auf Rache sinnt, ein abgehalfteter Detektiv und ein korrupter Bulle bringt der Zufall zusammen. Dass diese Zusammenkunft arg blutig wird, kann sich der Leser schnell denken, was dem bitterbösen Lesevergnügen aber keinen Abbruch tut (Edition 52).
Mit dem dritten Band „Flüchtiges Lächeln“ bringen Mezzo und Michel Pirus ihren wüsten Vorstadttrip zu Ende: Bereits die ersten beiden Bände von „Der König der Fliegen“ schlingerten psychedelisch zwischen Vorstadttristesse, Drogentrip und surrealem Albtraum. Das Finale nimmt sich da nicht zurück. Freunde von Charles Burns oder David Clowes werden ihre helle Freude an dem farbenfrohen Teenagedrama haben (Avant Verlag). Die F.A.Z. veröffentlicht seit einiger Zeit jeden Tag ein Kapitel der Reihe „Sechs aus 36“ des Autoren Thomas Cadène im Internet. Die Geschichte erzählt vom chaotischen Leben der Studentin Mathilde, die plötzlich reich geworden ist. In ihrer Familie und unter ihren Freunden löst das die unterschiedlichsten Reaktionen aus. Jeweils von einem anderen Zeichner umgesetzt, hat die Serie Suchtpotential. Für alle Freunde des Papiers erscheint die Reihe parallel auch in Buchform bei dem Verlag Schreiber & Leser.
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