Im letzten Jahr ist Florian Werner Vater geworden – doch die Ankunft von Töchterchen Ada ist beileibe nicht die erste Geburt, die bei dem Autor und Literaturwissenschaftler einen bleibenden Eindruck hinterlassen hat: „25 Jahre, bevor ich die Geburt eines Menschen gesehen habe, hatte ich schon ein Kalb ans Licht der Welt befördert.“ Auch damals durfte Florian Werner bereits „assistieren“: Er kurbelte an der Seilwinde. Das Erlebnis aus seiner Kindheit hat der in Berlin lebende Autor nie vergessen: „Die armen Tiere schreien ganz schrecklich.“ So war seine erste „Kuhgeburt“ denn auch die Geburtsstunde einer Faszination für den oftmals unterschätzten Paarhufer, die Florian Werner nun schon ein Vierteljahrhundert begleitet. Jetzt hat seine heimliche Leidenschaft Früchte getragen: „Die Kuh. Leben, Werk und Wirkung“ heißt sein Buch, das beileibe keine Satire ist, sondern auf 222 euterprallen Seiten eine veritable Kulturgeschichte der Kuh entfaltet: Von Cash Cows und Kuhhandel über einsame Cowboys und blutige Beefsteaks bis hin zum Goldenen Kalb geht hier so manches auf eine Kuhhaut. Ebenso umfassend recherchiert wie unterhaltsam geschrieben ist Florian Werners Buch, das die Kuh in der Kunst, Literatur und der Mythologie ebenso zu ihrem Recht kommen lässt wie in Geschichte, Politik und Wirtschaft. Und auch das weite Feld zwischen Sexualität und Ernährung durchmisst er.
Kommen Kühe in den Himmel?
Ein echtes Herzensprojekt sei dieses Buch, sagt Florian Werner. Sein Kuh-Buch schreckt auch vor so wesentlichen Fragen wie „Kommen Kühe in den Himmel?“ oder „Welches Bild machen sich Kühe von ihren Göttern?“ nicht zurück.
Getrieben hat ihn gewissermaßen der Wunsch, eine Lanze für die Kuh zu brechen und für die Rechte des sympathischen Wiederkäuers zu sprechen: „Dass die Kuh immerfort als drolliges-treudoofes Spielzeug, Dekorstoff (schwarz-weiße Musterung!) und Witzfigur verniedlicht wird, ist ein Skandal. Die Kuh ist ein überaus ernsthaftes, vielschichtiges Tier, das unseren Respekt verdient. Ein stilles Wasser, das so tief gründet wie die Brunnenschächte ihrer Augen. Sollten die 1,3 Milliarden Rinder dieser Erde eines Tages genug von dieser Herablassung durch den Menschen haben, dann gnade uns Gott. bzw. die große ägyptische Kuhgöttin Mehet-weret!“
Sodomie in der Schweiz
Florian Werner, 1971 geboren, ist nicht nur als Autor, Kolumnist (u.a. WDR) und Vortragskünstler („Fön“) höchst erfolgreich unterwegs, sondern ist nebenbei auch noch promovierter Literaturwissenschaftler. Sein „Kuh-Buch“ ist quasi ein Nebenprojekt seiner Doktorarbeit zum Thema „Rap und Apokalypse“: „Immer, wenn ich mich in der Staatsbibliothek um die Arbeit an meiner Dissertation drücken wollte, habe ich die Kulturgeschichte der Kuh recherchiert“, gibt der Autor zu, dass er beide Ideen nahezu parallel entwickelte. Material und Ideen sammelte Werner seit 2001, geschrieben hat er in einem Rutsch von Februar bis August 2008. Einen Verlag für das Wiederkäuer-Kompendium fand er schnell – und zwar ausgerechnet in der Schweiz: „Ich habe dem Verlag das Kapitel, in dem es u.a. über Sex mit Kühen in der Schweiz geht, als Arbeitsprobe geschickt – und sie haben sofort zugesagt. Das rechne ich dem Verleger nach wie vor hoch an, dass ihn das nicht abgeschreckt hat“, grinst der Autor.
Wie die Kuh über die Hürde geht
Den Kontakt zum domestizierten Paarhufer pflegt der Autor auch heute noch regelmäßig: „Immer, wenn ich in Zürich bin, besuche ich eine gute Freundin, die Kühe zum Hürdenspringen und Reiten abrichtet. Ihre beiden Kühe heißen Circe und Medea, und wo wir schon bei den alten Griechen sind: Die Kühe zum Hürdenspringen zu bewegen, ist eine Sisyphos-Arbeit. Erst füttert man ihnen ein Stück Apfel, dann rennt man ihnen voraus, springt selbst über die Hürde, idealerweise springt die Kuh dann nach, über die Hürde, aber nicht auf einen drauf. Dann kriegt sie wieder ein Stück Apfel.“ Was sich in der Theorie noch relativ leicht anhört, kann in der Praxis fatale Folgen haben: „Vor dem ‚Torbogenreflex’ muss man sich hüten: Wenn man sich bückt, um einen Schuh zu binden oder einen Apfel aufzuheben, steigt die Kuh gerne von hinten auf einen drauf – was bei Kühen von 500 kg und Schriftstellern mit Rückenproblemen vom vielen Schreibtischsitzen gefährlich sein kann.“
Mit Stallgeruch gefönt
An seine letzte Stipp-Visite erinnert er sich noch gut: „Vor dem letzten Zürcher Fön-Auftritt war ich dort auf der Weide, und roch danach auf der Bühne den ganzen Abend lang so nach Kuh, dass ich mich kaum traute, ans Mikro zu treten, um dem Publikum nicht zu nahe zu kommen.“ Dazu muss man wissen: Florian Werner bildet gemeinsam mit den Schriftstellern Michael Ebmeyer und Tilman Rammstedt sowie dem Vollmusiker Bruno Francescini die „literarische Boygroup“ „Fön“, die höchst erfolgreich im In- und Ausland unterwegs ist. Bereits dreimal waren „Fön“ Gäste des Macondo-Literaturfestivals in Bochum, wo Florian Werner sich nicht nur an der Bratsche, sondern auch auf trockenen Brötchen virtuos zu betätigen wusste.
Melancholische Kuhaugen
Jemand, der regelmäßig in seinen Hörfunk-Kolumnen dezidiert zu Politik und Gesellschaft Stellung bezieht, hat sich selbstverständlich auch zur Frage nach seiner Lieblingskuh Gedanken gemacht: „Meine Lieblingskuhrasse ist vermutlich die Jersey-Kuh, eine Milchkuhrasse von den englischen Kanalinseln, die Milch mit besonders hohem Fettgehalt gibt. Das ist aber nicht der Grund für meine Vorliebe, sondern die ausgesprochene Eleganz dieser Rasse. Das Fell hat einen geradezu akazienhonighaften Ton, und die Augen sind ganz besonders melancholisch und dunkel und groß, wie bei einer Zwanzigerjahre-Stummfilmschauspielerin, die gerade Tollkirschen gegessen hat.“
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