Enthusiastisch blicken sie in die Kamera. Boris Pasternak, Sergej Eisenstein, Wladimir Majakowski. Ein Gruppenbild mit Künstlern, welche die gewaltigen Umwälzungen ab 1917 mit ihren Mitteln begleitet haben. Literatur, Malerei und schließlich der Film hatten in diesen russischen Zuständen schon politischen Zündstoff, bevor es zur Februarrevolution und den darauf folgenden Oktoberumsturz kam. Oder wie es der Schriftsteller Alexander Puschkin formulierte: „Ein Dichter in Russland ist mehr als ein Dichter.“
Diesen zitiert auch Nina Benko-Dellinghaus in ihrem Vortrag auf Einladung des Länderkreises Osteuropa über die „Russische Revolution und die Literatur“. Benko-Dellinghaus ist keine Literaturwissenschaftler, aber sie hat sich intensiv mit der künstlerischen Seite der Russischen Revolution auseinandergesetzt. Während sich im vergangenen Herbst etliche Magazine, Ausstellungen oder Buchneuerscheinungen dem Revolutionsjubiläum von 1917 widmeten, ist die Rolle der Kunst und der Literatur in dieser Umbruchphase eher ein Nischenthema.
Dabei erzählen ihre Werke und Verse so viel über diese stürmische Zeit. Über Aufbruch und Hybris, Enttäuschung und Verzweiflung. Denn ihr Tun war eng mit den revolutionären Ereignissen verknüpft. Vor allem in der übersteigerten Wahrnehmung einiger ZeitgenossInnen, wie Benko-Dellinghaus meint: „Es gibt Stimmen, die sagen, die Dichter hätten die Revolution verbreitet. Aber das ist meiner Meinung nach eine Utopie. So viel Einfluss hatten sie auch gar nicht.“
Dieser Mythos geht bereits auf das Jahr 1905 zurück, der Generalprobe für den Sturz der Zarenherrschaft. Während des Russisch-Japanischen Bürgerkriegs rebellieren und streiken Millionen im Land. ArbeiterInnen, BäuerInnen, Matrosen. Aber auch die Künstler. „Das war die Zeit, in der das Volk und die geistige Elite gespürt haben, dass sich was ändern muss.“
Auch 1917 begrüßte diese geistige Elite den revolutionären Aufbruch mit Gedichten und Manifesten. Als der Bürgerkrieg und die Dürre zu Elend und Unterdrückung im Land führten, wandten sich viele Intellektuelle von der Politik der Bolschewiki ab. Spätestens als Presse- und Kunst kontrolliert wurden. „Diese Tendenz hat sich durchgesetzt“, sagt Benko-Dellinghaus.
KünstlerInnen, die vorher noch für die Revolution agitierten, verloren ihren Enthusiasmus. So wie Maxim Gorki. „Das, was er gesehen hat, hat ihn so enttäuscht, dass er seine Meinung geändert hat“. Ein Sprachrohr der Revolution war zunächst auch das Multitalent Majakowski. Aber: „Mit der Zeit war auch er enttäuscht, als er sah, dass die Partei Dinge durchsetzte, die sich die Künstler so nicht vorgestellt hatten.“
Gedichte von weniger bekannten AutorInnen wie Sergej Essenin, die Benko-Dellinghaus an diesem Abend erwähnt, drücken diese Enttäuschung über den Verlauf der Revolution und die selbst erfahrene Zensur und Verfolgung aus – oft bis zur Depression. „Trotz Hunger, Krieg und den Vernichtungen gab es Künstler, die uns noch immer faszinieren“, sagt sie. In ihrem Heimatland wurde das Revolutionsjubiläum und die Kunst von Majakowski und Co. kaum berücksichtigt. Für Zündstoff und Zensur sorgte dort schon ein vermeintlich biederer Film wie „Mathilde“. Ob das so bleibt? „Russland erlebt heute wieder eine sehr starke Umbruchzeit“, sagt Benko-Dellinghaus. Zeiten, in denen KünstlerInnen wieder mehr sind als KünstlerInnen.
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