Eine sympathische junge Frau in London mit britischer Mutter und japanischem Vater rast mit ihrem Fahrrad zwischen WG, Bhudda-Zentrum und japanischem Spielzeugladen, in dem sie als Verkäuferin arbeitet, hin und her, während sie mit allen Mitteln einem Waschmaschinenreparateur nachstellt. Klingt alles normal und nur leicht überdreht. Wären da nicht die psychotischen Attacken, in denen Nao Mordgelüste gegenüber ihren Mitmenschen verspürt. Vor allem kleine Kinder lösen die Panikattacken aus. Glyn Dillon, wie seine Protagonistin in „Das Nao in Brown“ Illustrator und Spielzeugdesigner, inzwischen aber vor allem mit Storyboards für Filme beschäftigt, ist erzählerisch ein kleines Meisterwerk gelungen. Klein nur, weil er sich die Mühe macht, im Alltag und nicht im schweren Drama nach den großen Themen des Lebens zu suchen. Auch zeichnerisch ist Dillons 200-seitiges Werk von beeindruckender Souveränität (Egmont). Noch eine sympathische junge Frau, diesmal im Westen Frankreichs. „Madie und die Liebe“ erzählt von einer jungen Provinzärztin, die nach vielen Jahren erfährt, dass ihre totgeglaubte Jugendliebe lebt. Das Gefühlschaos belastet ihre aktuelle Beziehung. Das Autorenteam Mercier, Filippi & Raymond erzählt seine Geschichte unspektakulär und schildert eher die alltäglichen Zwischentöne der Beziehungen zwischen den Menschen (Carlsen).
Leopold Maurer widmet sich nach „Miller & Pynchon“ und „Mann am Mars“ mit „Kanal“ den absurden Auswüchsen in der Politik: Die Kanzlerin (nein, Maurer ist Österreicher, also nicht Merkel nachempfunden), eine arrogante Alkoholikerin, die alle um sich herum für Trottel hält, plant einen Kanalbau, um das Meer in ihr Binnenland zu bringen. Der Irrsinn soll ihr Wählerstimmen bringen, da Arbeitsplätze locken, die Wirtschaft allgemein angekurbelt wird und Seeluft sowieso gut tut. Maurer zeichnet schlicht aber pointiert und formuliert ebenso scharfsichtige Dialoge, die die mitunter absurden Zusammenhänge in der Politik satirisch spiegeln (Luftschacht). „Die besten Feinde“ vom Historiker und Islamwissenschaftler Jean-Pierre Filiu und dem Zeichner David B. erzählt von der langen und verworrenen Geschichte zwischen Amerika und dem Islam. Der erste Teil widmet sich der Zeit von 1783, dem Jahr, als die gerade entstandene amerikanische Nation erstmals gegen islamische Piraten im Mittelmeer vorging, bis ins Jahr 1953, als der CIA den iranischen Premier Mossadegh stürzte und den iranischen Schah zurück an die Macht brachte. Der zweite Teil führt die Geschichte bis ins Jahr 1984 fort, kurz nach dem Ende des ersten Libanonkriegs. David B. bebildert Filius Text in drastischen, surrealen Bildern, die die verworrene und folgenreiche Geschichte plastisch illustrieren und den Hintergrund für die aktuellen Konflikte in Nahost anschaulich werden lassen. Um Stoff für einen dritten Teil müssen sich die Autoren wahrlich keine Sorgen machen (avant verlag).
„Canardo“ geht in die 22. Runde! Den abgehalfterten Enten-Detektiv mit Trenchcoat und Alkoholproblem – frei nach Bogart – hat Benoît Sokal 1978 ins Leben gerufen und seitdem halbwegs regelmäßig zunächst in Kurzgeschichten und dann in nunmehr 22 Alben auf Gaunerjagd geschickt. Die Politsatire „Der alte Erpel und das Meer“ ist zwar gewohnt kurzweilig und anspielungsreich in Szene gesetzt, wird es aber nicht zum Klassiker bringen. Dafür ist die Story zu sehr um politische Seitenhiebe bemüht, und Canardo selber spielt eigentlich nur eine Nebenrolle (Schreiber & Leser).
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