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Michael Loeken und Ulrike Franke (v.l.)
Foto: Leonard Putz

„Was im Ruhrgebiet passiert, steht im globalen Zusammenhang“

04. März 2024

Die Dokumentarfilmer Ulrike Franke und Michael Loeken über den Strukturwandel – Über Tage 03/24

Ulrike Franke und Michael Loeken befassen sich in ihren Dokumentarfilmen mit dem Strukturwandel im Ruhrgebiet. Im Interview spricht das Regie-Duo über die Deindustrialisierung und die Erholung der Natur in der Region.

trailer: Frau Franke, Herr Loeken, Sie haben u.a. eine Trilogie über das Ruhrgebiet vorgelegt. Wie kam es dazu, so ausführlich über die Deindustrialisierung dieser Region zu erzählen?

Ulrike Franke (UF): Wir gehen nicht von großen Wörtern wie Globalisierung oder Deindustrialisierung aus, sondern andersherum: Im Mittelpunkt stehen die Verlust- oder Transformationsgeschichten der Menschen, die unfreiwillig davon betroffen sind. Das heißt: Wie verändern die großen gesellschaftlichen Prozesse das Leben dieser Menschen?

So wie in ihrem Film „Göttliche Lage“. Da geht es z.B. um die Geschichten der einfachen Leute, die sich das Wohnen auf einem ehemaligen Stahlwerksgelände in Dortmund nach Anlegen des künstlichen Phönix-Sees nicht mehr leisten können.

Michael Loeken (ML): Wir glauben, dass sich an den Rändern viel abspielt. Man versteht diese großen Prozesse nur richtig, wenn man sich an diesen Rändern bewegt – statt nur in den Mittelpunkten, in denen wieder ein großes Projekt angekündigt wird, das die Zukunft darstellen soll. Damit wollen wir auf das Wesen dieser gesellschaftlichen Wandlungsprozesse eingehen.

Welche Rolle spielen dabei das Schwinden von Arbeitsplätzen und die räumliche Trennung von Arm und Reich im Ruhrgebiet, die Sie in ihren Filmen auch darstellen?

UF: Da ich selbst im Ruhrgebiet geboren und aufgewachsen bin, habe ich den Wandel natürlich mitbekommen: Immer ging etwas zu Ende und etwas Neues trat an dessen Stelle. Worauf wir also schauen, ist dieses Aufeinandertreffen an den Schnittstellen. Das gilt etwa für „Arbeit. Heimat. Opel“ und „We are all Detroit“ über das Verschwinden des Opel-Werks und die Frage, was mit den Beschäftigten geschieht. Das sind Prozesse, die man im Ruhrgebiet wie unter einer Käseglocke oder in einem Zeitraffer beobachten kann.

ML: Die Transformationsprozesse betreffen ja nicht nur das Ruhrgebiet, sondern die ganze Welt. Als das Opel-Werk abgerissen wurde, war es uns daher wichtig, nach Detroit zu gehen, wo die Entscheidung zur Schließung getroffen wurde. Denn was im Ruhrgebiet passiert, steht in einem globalen Zusammenhang.

„Mit dem Opel-Werk verschwand eine Art Hardware“

Wie bewerten Sie die sozialen Verwerfungen im Ruhrgebiet im Vergleich zu Detroit?

UF: Es fehlen die Voraussetzungen, um beide Orte zu vergleichen. Schließlich lassen sich die gesamte Historie und auch das Sozialsystem hier sowie in den USA nicht vergleichen. Was man aber feststellt: Der Blick auf das Ruhrgebiet wird sanfter. Denn hier gibt es andere Absicherungssysteme als in den USA.

ML: Mit dem Opel-Werk verschwand zunächst eine Art Hardware, weil die Gebäude abgerissen wurden. Aber was noch verschwand, sind soziale Strukturen wie z.B. vernünftige Löhne, die über Jahre gewerkschaftlich erkämpft wurden. Was zum großen Teil an die Stelle des Opel-Werks trat, war die Logistik. Dort sind die Löhne unterirdisch und auch die sozialen Verhältnisse sind komplett anders als in der einstigen, hiesigen Autoindustrie. Was ich damit sagen will: Wenn man sich das eine System hier und das andere in Detroit anschaut, dann erkennt man Entwicklungen, die in den USA bereits stattfanden und hier drohen, nach und nach auch einzutreten.

Ihr aktuelles Projekt „Birdwatcher“ dreht sich dagegen um Vögel. Wie kam es dazu, dass Sie sich statt der Deindustrialisierung nun der Ornithologie widmen?

ML: Dieses Projekt steht für uns in einer Reihe mit den vorherigen Filmen. Denn wir lernten jemanden kennen, der sich sehr rührend um bestimmte Vogelpopulationen im Autobahnkreuz Duisburg-Kaiserberg kümmert. Dort fahren zwar Millionen Autos entlang, aber zugleich befindet sich da ein Naturschutzgebiet. Wir machen aber keinen Film über die Ornithologie. Wir schauen vielmehr, was die Menschen mit großer Leidenschaft in dieser Landschaft gestalten. Damit kommt für uns zugleich etwas ins Spiel, was bei unseren vorherigen Filmen nur angedeutet wurde: Als Folge der Transformation spielt im Ruhrgebiet wieder die von der Industrialisierung geschundene Natur eine andere Rolle, da sie die einstigen Gebiete der Industrie zurückerobert.

Interview: Benjamin Trilling

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