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Im Theater Oberhausen inszenierte Zholdak 2009 die Uraufführung von Henry Millers Roman „Sexus"
Foto: Theater Oberhausen

„Kein Schauspieler im Plastikinsektenkostüm“

25. September 2014

Der ukrainische Regisseur Andriy Zholdak inszeniert in Oberhausen Kafkas „Die Verwandlung“ – Premiere 10/14

Franz Kafkas Erzählung „Die Verwandlung" beginnt mit einem nüchternen Satz, der aber einen unglaublichen Sachverhalt beschreibt: „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt." Der Albtraum dieser Geschichte hat ein doppeltes Gesicht. Zum einen erzählt sie vom Schrecken des handlungsreisenden Tuchhändlers, der mit seinem Beruf seine auf ihn angewiesene Familie ernährt, die andere Seite dieser Geschichte: Wie sollen selbst seine engsten Familienangehörigen, Vater, Mutter, Schwester, damit fertig werden, dass Gregor ein Ungeziefer und ein Ungeheuer geworden ist? Für diesen Konflikt kommt Andriy Zholdak, Starregisseur der konfliktreichen Ukraine wieder nach Oberhausen.
trailer sprach mit ihm während der Proben:

​Andriy Zholdak
Foto: privat
Andriy Zholdak wird 1962 in Kiev geboren und studiert am Staatlichen Institut für Film- und Theaterkunst als Schüler von Anatoliy Vasiliev. Seit 1989 arbeitet er als freier Regisseur. Von 2002-2005 leitet er das Shevchenko-Theater in Charkiv. Im deutschsprachigen Raum inszeniert u.a. bei den Berliner Festspielen und Wiener Festwochen. 2004 erhält er den UNESCO-Preis für Regie.

Wir haben in Oberhausen Henry Miller und Dostojewski gesehen, warum 2014 Kafka?
Für mich als Künstler stellt sich immer die Frage, was ist die nächste Produktion und in welchem Land arbeite ich. Meine Inszenierungen haben einen ähnlichen Charakter wie ein Gemälde oder ein Roman. Immer wenn ein Autor einen Roman schreibt, hat er gleichzeitig im Kopf, was er vorher geschrieben hat oder noch schreiben wird. Ich habe vor Oberhausen eine sehr große, starke Produktion in Finnland gemacht, vielleicht meine beste Inszenierung der letzten zwei Jahre.
Ich liebe Kafka und ich lese ihn zuhause sehr oft, wenn ich abends entspannt mal einen Wein trinke. Trotzdem habe ich mich nie entschieden, Kafka zu inszenieren. Das entwickelte sich im Dialog mit Peter Carp, den ich lange kenne und der mich dazu ermunterte. Kafka ist ein Autor, der in meinem Privatleben wichtig ist, der beschreibt, wie Menschen tief in ihrem Inneren fühlen, quasi „underground", etwas, das wir nie zeigen. Ich habe also das Set vorbereitet, aber ich schaue gleichzeitig auch, was habe ich hier für Schauspieler, wie sitzen sie, wie schauen sie aus. Erst gestern Nacht habe ich begonnen zu verstehen, wie der Weg zum Stück sein könnte. Ich werde keine Geschichte erzählen. Alles ändert sich. Ich habe mich auch nach „Sexus" und „Der Idiot" verändert und man verändert sich ständig als Künstler. Regisseure, die zehn Jahren im System sind und ihre Ästhetik nicht verändern, verstehe ich nicht. Kommerzieller Erfolg ist nicht mein Ziel. Ich könnte sogar in ein paar Jahren meinen Namen ändern und wieder von null anfangen. Heute ist mir eine Geschichte über Menschen wichtig, der Text und die Schauspieler – das war vor ein paar Jahren noch anders. Bei Kafka werde ich das Augenmerk ebenfalls auf den Text richten. Ich möchte gerne alle 56 Seiten inszenieren, ich werde auf keinen Fall streichen. Der Text ist sehr wichtig. Auch ist es für mich eine Geschichte darüber, was mit einer deutschen Familie passiert. Das ist wichtig, denn ich bin kein Deutscher, ich bin eher eine internationale Person, ein Ukrainer, aber als Regisseur lebe ich überall. Kafka beschreibt eine Familie: Vater, Mutter, Schwester und Sohn. Heute ist es ein Problem in Deutschland, in Europa, dass die Leute nicht lange zusammenleben. Sie verbringen vielleicht Zeit mit Kindern, aber nicht wirklich ehrlich, und es gibt keine tiefe Verbindung. Und so wird es eine Produktion über die Degradierung der Familie in Deutschland. Wenn ich Kafka in Finnland oder Russland machen würde, würde ich etwas anderes in den Fokus nehmen.

Hat der Zustand als Ungeziefer auch etwas mit zeitgenössischen virtuellen Welten zu tun?

Selbstverständlich verändern wir uns durch die neuen Techniken, verbringen mehr Zeit in virtuellen Welten, im Internet, aber die menschliche Struktur verändert sich nicht. Gerade nicht in Bezug auf die Familie. Ich denke, dass Gregor nur für die Familie ein Tier bleibt, weil er komplett alleine ist. Ich kenne mehr Menschen, Freunde, auch in Deutschland und anderen Ländern, die komplett alleine leben. Auch über Kafkas Privatleben wissen wir sehr viel, wie er gelebt hat, über sein komplexbeladenes Verhältnis zu Frauen. Ich starte gerade mit den Proben, wir haben eventuell auch Kamera und Video. Aber erst mal nehme ich nur die Geschichte und die Sprache. Die Geschichte ist allein schon sehr stark. Man kann Gregor mit Jesus Christus vergleichen. Die Verwandlung mit einem Kreuz.

Wie groß wird das Ungeziefer Gregor Samsa auf der Bühne?

Ich finde es lustig und schrecklich, wenn ich im Theater Schauspieler sehe, wie sie das quasi real spielen. Ich werde das überhaupt nicht so umsetzen. Kein Schauspieler im Plastikinsektenkostüm, kein Krabbeln an Decke oder Wänden. Kein reales Spiel des Insekts. Ich werde das anders machen.

Was ist die Funktion von Gregors Schwester Grete im Stück?

Grete ist eine sehr wichtige Figur und mein Schlüssel zu Kafka und zu meiner Inszenierung. Kafka hat in die Geschichte einen Inzest eingeschrieben, eine starke Verbindung von Bruder zu Schwester, zu Hass und Liebe. Die Schwester ist ein sehr starker Teil von Gregor. Und Gregor ein Teil der Schwester. Sie sind wie siamesische Zwillinge.

Wie wichtig ist bei einer Zholdak-Inszenierung die Ratlosigkeit des Publikums?

Ich denke als Regisseur überhaupt nicht ans Publikum. Wenn ich von jungen Kollegen gefragt werde, dann sage ich, bitte vergesst das Publikum. Es existiert nicht. Mein Publikum bei Proben und Aufführungen sind Fellini, Schopenhauer, Freud oder Tschaikowski. Und vor diesem Publikum mache ich keine Witze.

Die Mentalitäten der Zuschauer sind ganz verschieden. Zum Beispiel meine Anna Karenina in Finnland am Stadttheater Turku. Das hat über 1.000 Plätze. Das Theater hat die Produktion zwei Jahre nonstop gespielt. In Moskau habe ich Carmen gemacht, es ist nur sechs Mal vor wenigen Zuschauern gespielt worden. Wenn das Publikum kommt, dann kommt es. Deutsches Publikum mag es nicht, wenn es sich im Theater dumm vorkommt. Sie schauen und fragen sich: Was ist das? Was ist das? Sie haben einen tiefen Konflikt in sich. Wenn sie das Theater in Schubladen schieben können: das ist Lepage, das ist Wilson, dann akzeptieren sie es und applaudieren.

Also L'art pour l'art?

Genau.

Wie macht man Theater in einer Situation wie momentan in der Ukraine?

Das ist ein sehr interessanter Zeitpunkt für die Ukraine. Man hat die Separatisten. Russische Truppen bleiben vor Ort. Es ist sehr gewalttätig – vielleicht wie in Afghanistan oder im Irak. Ich habe Freunde, die da geblieben sind. Theater ist für mich in der Ukraine zurzeit nicht möglich. Man kann unter solchen Unständen keine Kunst machen. Jede Art von Kunst ist falsch. Wenn ein Schauspieler einen Text sagt, ist das falsch. Wenn man sieht, was in den Städten passiert und dann Theater sieht, lacht das Publikum nur. Die Theatergebäude sind leer. Und wenn ich darüber nachdenken sollte, was ich in der Ukraine inszenieren könnte, wie könnte ich das tun?

„Die Verwandlung" | Fr 24.10.(P), Mi 5.11., Fr 7.11. 19.30 Uhr | Theater Oberhausen | 0208 857 81 84

INTERVIEW: PETER ORTMANN

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