Wann hat man zuletzt das Bochumer Schauspielhaus so voll gesehen? Wann war das Publikum zuletzt so jung, enthusiastisch und voller Bereitschaft, den Abend sowohl zu genießen als auch mitzugestalten? Das muss wohl beim letzten „Dead or Alive Slam“ im Mai dieses Jahres gewesen sein.
Bei dieser Form des derzeit so beliebten Poetry Slams treten Slammer von heute mit ihren aktuellen Texten gegen Klassiker der Weltliteratur an. Letztere werden auch bei diesem zweiten „Dead or Alive Slam“ wieder verkörpert von Schauspielern des Bochumer Schauspielhauses. So treffen auf der Seite der Lebenden Renato Kaiser, Torsten Sträter, Franziska Holzheimer und Pierre Jarawan auf die Verstorbenen Daniil Charms (Raiko Küster), Theodor Fontane (Werner Strenger), Ernst Jandl (Marco Massafra) und Raymond Queneau (Nicola Mastroberardino). Durch den Abend führt unser Videokolumnist Sebastian23 als Moderator.
Bei dieser Aufstellung fällt auf, dass Franziska Holzheimer die einzige Frau in der Runde ist. Das ist wirklich bedauerlich, nicht nur für heutige Künstlerinnen; ebenso gibt es unter den Klassikern der Weltliteratur großartige Schriftstellerinnen – auch wenn man bisweilen leider ein wenig nach ihnen suchen muss. Die Jury setzt sich aus zuvor bestimmten Mitgliedern des Publikums zusammen, die mittels Punktevergabe unmittelbar nach jedem Kandidaten ihre Wertung vornehmen. Man möchte meinen, dass es vor allem ein Theodor Fontane da schwer hätte, mit seinen Texten anzukommen und im direkten Vergleich gegen Torsten Sträter zu bestehen. Jedoch weit gefehlt. Er schneidet in der Bewertung der Publikumsjury fast ebenso gut ab. Andächtig lauschen die Anwesenden Fontanes „John Maynard“, das von Strenger so intensiv vorgetragen wird, dass es einem kalt den Rücken runter läuft – unsere Liebe sein Lohn.
Tosenden Applaus ernten die heutigen Künstler allesamt: Renato Kaiser variiert Ovids Metamorphosen, Torsten Sträter erfindet sich einen Vater, Franziska Holzheimer erklärt ihre Sicht auf die Welt und Pierre Jarawan ist die Inspiration in Person. Sowohl Daniil Charms, der russische Avantgardist, als auch der Franzose Raymond Queneau, der 99 Variationen einer Geschichte schrieb, brauchen sich mit ihren Texten keineswegs hinter ihren lebenden Kollegen zu verstecken. Dies braucht Ernst Jandl erst recht nicht. Seine experimentelle Lyrik wirkt, als wäre sie eigens für den Slam geschrieben worden. Und nicht zuletzt liegt es wohl an der großartigen Verkörperung durch Marco Massafra, dass das Publikum begeistert ist.
In der sogenannten Bonusrunde stehen sich die verdienten Favoriten Jandl und Sträter gegenüber. Es ist ein Duell der Spitzenklasse, das Jandl berechtigter Weise für sich entscheiden kann. Denn Sträter unterbietet seine erste Nummer deutlich, indem er nunmehr auf klischeehafte Witze der Sparte Mann/Frau zurückgreift. Sicher, das kommt immer irgendwie an, stellt jedoch auch keinen besonders hohen Anspruch an Niveau und Intellekt der Zuschauenden.
Nach dieser Aufholjagd der Toten kommt es zu einem harmonischen Unentschieden zwischen den Mannschaften. Wie hätte es schöner ausgehen können! Die Toten und die Lebendigen teilen sich Pokal und Fruchtgummis.
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